Zum Inhalt springen
Startseite » Leben wir in einem neuen Biedermeier

Leben wir in einem neuen Biedermeier

Wer die politische Entwicklung verfolgt, die Zustände beklagt und aktiv dagegen aufbegehrt, fragt sich, warum dies nicht mehr Menschen tun. Erst am Wochenende fanden deutschlandweit Versammlungen und Veranstaltungen gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und für den Frieden statt. Obgleich unsere Volkswirtschaft massiv unter dem Wirtschaftskrieg und dem Krieg gegen Russland leidet, obwohl uns Verbündete, denen wir Milliarden an Steuergeldern überweisen die Energiehauptschlagader wegsprengen, obwohl unsere Kinder kriegstüchtig für den großen Krieg gemacht werden sollen, regt sich kaum ein nennenswerter Widerstand. Warum ist das so? Was soll noch passieren?

Man könnte viele Erklärungen finden. Die Gesellschaft wurde mit Erfolg gespalten. Rechte wollen nicht mit Linken und Linke erst recht nicht mit Rechten. Seit Beginn der Brandmaurerei werden nun sogar Konservative und Liberale regelrecht bekämpft. Um die Sache geht es dabei nicht mehr, wie man auch am vergangenen Wochenende sehen konnte, als angesichts der oben beschriebenen Zustände viel zu wenig Menschen die angebotenen Veranstaltungen und Versammlungen für den Frieden besuchten. Es mag verständlich, wenn auch sehr bedenklich und traurig sein, wenn man in einer Stimmung gegen rechts sich nicht mehr traut, zu einer Demo wie der von www.macht-frieden.org aufzurufen, die alle friedliebenden Demokraten willkommen heißt. 

Die vermeintlich linken Kräfte aus der alten Friedensbewegung haben jedoch ebenfalls nicht das Mobilisierungspotential für den Frieden und müssen sich mit weit weniger Menschen für den Frieden einsetzen als noch wenige Tage vorher mit Hunderttausenden, die zur Stützung eines kriegerischen Regimes brandmauern. Nur wenige Tage später gehen sie gegen dieses kriegstreiberische Regime in Bruchteilen auf die Straße, weil keine der Machtstrukturen aus Parteien, Leitmedien und nGOs den Frieden unterstützt. Diesen Widerspruch scheinen sie jedoch nicht zu erkennen, seit sie in der Coronakrise mit der der vermeintlichen „Solidarität“ gekapert wurden und daraufhin die Machtstrukturen schützten und stützten, die mit ihrer Hilfe gegen die Schwächsten der Gesellschaft und eine diskriminierte Minderheit mit aller Härte vorgehen konnte. 

Und obwohl der Zeitgeist längst und immer mehr rechts ist, haben die Rechten kaum Mobilisierungspotential für den Frieden, was auch verständlich ist, da sie keine glaubwürdige Friedensposition haben. Sie halten an der NATO fest, stehen zum großen Teil stramm hinter Israel – egal was dort passiert – und fordern eine massive Aufrüstung und die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Gleichwohl sind vielen sachliche Forderungen nach Frieden und Versammlungen ohne einen AfD-Redner zu links. Um die Sache geht es vielen dabei ganz offensichtlich nicht oder der Frieden ist nicht ihre Sache.

Es scheint ein völlig fehlendes Verständnis für die Zusammenhänge vorzuherrschen, warum Kriege geführt werden und welche Folgen sie haben – unter anderem die massiven Fluchtbewegungen, die dann wiederum auf der einen Seite beklagt und auf der anderen Seite begrüßt werden.  

Das und weiteres könnten Erklärungsversuche sein. Aber reichen sie aus um zu verstehen, warum die Menschen aufgehört haben, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen? Wohl kaum. Was, wenn sie bewusst zermürbt und verwirrt wurden und einfach nicht mehr können. Die Coronakrise hat viele an den Rand ihrer Kräfte gebracht, aber dann ging es nahtlos weiter mit Angriffen auf Grundrechte, Frieden und den gesunden Menschenverstand. Wokeness, Selbstbestimmungsgesetz, Ukraine, Gaza, Inflation, Rezession, Migration, Terror und so weiter und so fort. Und das alles neben Familie und Beruf oder vielleicht mittlerweile Berufen (plural), um seinen Lebensstandard noch aufrecht erhalten und gegen die wohlstandsvernichtende Politik verteidigen zu können. Viele Menschen scheinen aufgegeben und sich zurückgezogen zu haben.

Einen möglichen weiteren Erklärungsansatz dafür habe ich in einem Ö1-Podcast gefunden, an den ich mich nach diesem Wochenende erinnert habe. Die Sendung der großartigen Journalistin Daphne Hruby mit dem Titel „Leben wir in einem neuen Biedermeier“ ist ein facettenreiches Werk über die unterschiedliche Wahrnehmung, über unterschiedliche Perspektiven und damit aus meiner Sicht ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis. Die Sendung vom 9. Dezember 2024 wurde wie folgt angekündigt: 

„Wie im 19. Jahrhundert suchen immer mehr Menschen Halt im Rückzug ins Private. In eine Sphäre, die sie hoffen, vollends beherrschen zu können, in einer Zeit des gefühlten Kontrollverlusts den äußeren Umständen gegenüber. Studien und Umfragen zeigen: gerade Jugendliche sehnen sich wieder nach Bewährtem: Eigenheim, Familie, Attraktivität. Gehegt und gepflegt wird diese Attitüde auch von diversen digitalen Angeboten. Dort wird man in der eigenen Blase geliked und wenn man will auch in separaten Spaces gesafed. Fragt man automatisierte maschinelle Rechenmodelle – fesch angepinselt auch „Künstliche Intelligenz“ genannt – nach der eigenen Person, so erntet man rein Positives. Damit kann sich nicht nur das humane Wesen im eigenen Lichte sonnen – ebenso die Technik wird liebgehabt und damit auch weiterverwendet. Daphne Hruby findet mit Expert/-innen und Jugendlichen teils verblüffende Perspektiven.“

Ich halte diese Sendung für ein der Konservierung würdiges Zeitdokument und habe sie daher im Folgenden transkribiert und vom Österreichischen ins Deutsche übersetzt, der besseren Lesbarkeit halber auch etwas geglättet, ohne den Inhalt zu verändern. Hier kann sie (noch) nachgelauscht werden, wie Daphne Hruby es ausdrücken würde:

Wer mit diesen Gedanken etwas anfangen kann und sie honorieren möchte, findet unter diesem Link ein paar Möglichkeiten zur Unterstützung zur Auswahl. Vielen Dank!

Science Arena

Bernhard Heinzlmaier: Das ist deshalb pervertiert, weil es Menschen gibt, die so wie Kopfgeldjäger auf der Suche sind nach Menschen, die Fehler machen. Also das heißt, man findet jemanden, der was falsch macht und führt den Menschen dann öffentlich vor und fordert dann die Menge auf, den Menschen zu bestrafen. Und die Menge reagiert dann darauf, dass der ausgegrenzt wird, dass der kein Job mehr bekommt, dass er nimmermehr eingeladen wird, wenn der Freundeskreis einen Geburtstag feiert etc. etc. Das heißt, wir haben immer mehr die Spielräume der Bürger eingeengt. Und damit verabschieden sich die und ziehen sie zurück in den Schutz ihrer vier Wände, wo sie noch machen können, was sie wollen. Dort kann man nämlich sagen, was man will, Das hört nämlich keiner. 00:00:57

Anna Durnova: Wir leben nach wie vor in einer Demokratie. Wir können immer auch andere Parteien wählen. Wir können auf die Straße gehen. Wir können noch immer Dinge sagen, dass es manchen nicht gefällt und dass wir dafür einen sogenannten Shitstorm in den sozialen Medien bekommen, ist zwar unangenehm, aber kostet uns weder Job noch gehen wir in irgendeinen Arbeitslager, wie das dann in den wirklich totalitären Staaten ist. 00:01:18

Leben wir in einem neuen Biedermeier?

Manuela Smertnik: Schwierige Frage. Das kann man, glaube ich, nicht so grundlegend für alle beantworten. Aber wir beobachten schon, dass so krisenhafte Zeiten durchaus ein Rückzug befördert in das Vertraute, dorthin, wo man Sicherheit und Stabilität und Zugehörigkeit spürt. Wenn man das als Biedermeier bezeichnen mag. Das denke ich schon, dass das im Moment gegeben. 00:01:45

Von Daphne Ruby

Jasmin Ledum: Ich würde sagen, viele sind viel zu sehr isoliert und in sich zurückgezogen als früher. Der größte Grund, wieso Jugendliche Onlineaktivismus machen und nicht rausgehen ist – ich würde sagen, dass uns vieles peinlich ist. Meine Generation benutzt ja oft das Wort Cringe. Also das Wort cringe selber ist halt, wenn etwas wirklich peinlich ist und halt einfach Fremdscham kann man auch als Cringe bezeichnen. 

Ronja Rösner: Ich glaube einfach, unsere Generation ist noch komplett von Corona verstört. So Menschenmassen. Oh mein Gott. Mir ist das aufgefallen. Das erste Mal, als ich wieder auf eine Messe gegangen bin, dachte mir Oh Gott, so viele Menschen und einfach man hat es ja gemerkt bei Fridays for Future. Was bringt es? Die Politiker hören doch meistens eh nicht zu. 00:02:30

Daphne Hruby: Die Politik hört uns doch eh nicht zu. Eine weit verbreitete Wahrnehmung, eine Frustration, die sich momentan in sämtlichen Wahlergebnissen Bahn bricht. Auch im 19. Jahrhundert hat das bis dahin regierende gesellschaftliche System nicht mehr mit den Alltagserfahrungen und den Bedürfnissen vieler Menschen zusammengepasst. Die Folge: Eine Reihe von Umwälzungen, Kriege, Arbeitswandel, Klimaveränderungen, der Kampf um Medien und Meinungsfreiheit, soziale Umbrüche und dabei Verunsicherung bis Weltuntergangsszenarien. Das alles gab es im Biedermeier. Und das alles gibt es auch heute. Geschichte kommt allerdings nie im gänzlich selben Mäntelchen daher. Das macht es für einige auch so schwierig, aus ihr zu lernen. Einen Versuch ist es aber allemal wert. 00:03:19

Musik: Freut Euch des Lebens…

Daphne Hruby: Freut euch des Lebens aus Kompositor und dichterischer Feder Hans Georg Nägelis und Johann Martin Usteris.

Das Volkslied erklang im Biedermeier landauf, landab und damit die Bewältigungsdevise. Probleme haben wir mehr als genug. Wenden wir den Blick doch den schöneren Dingen zu. 00:03:55

Prolog das Biedermeier

Daphne Hruby: Als das Biedermeier anbrach, steckten dem europäischen Kontinent bzw seiner Bevölkerung noch die Koalitions- und napoleonischen Kriege in den Knochen. Diese hatten nicht nur ein riesiges Loch in das kaiserlich-österreichische Budget gefressen und in den Staatsbankrott geführt, sie haben in 23 Jahren auch hunderttausende Todesopfer gefordert. Im österreichischen Kaiserreich zog nicht etwa der offizielle Regent Kaiser Franz I., der als schwach galt, sondern sein Staatskanzler Clemens Wenzel Lothar von Metternich die taktisch diplomatischen Fäden und zurrte zugleich ein enges Korsett mit dem Ziel, die damalige Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten und das aufstrebende Bürgertum in seine Bahnen zu weisen. Zensur, Polizei und Spitzelwesen drangen in jeden Winkel der Habsburger Monarchie vor. Diese erstreckte sich damals über weite Regionen Mittel- und Südosteuropas und umfasste neben Österreich auch Gebiete im heutigen Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Teile Polens, der Ukraine, Sloweniens, Kroatiens, Rumäniens und Norditaliens. Oder anders ausgedrückt eine Bevölkerung von circa 21 Millionen Menschen. Unterdessen schritt die Industrialisierung voran. Handwerkerberufe verschwanden und die Menschen wurden in die Fabrikarbeit gedrängt. Hunger und soziales Elend waren weitverbreitet. Andererseits wurden im Biedermeier auch die Wurzeln für tiefgreifende Reformen gelegt. So viel zum enzyklopädischen Ausflug. Doch diese Sendung will mehr. 00:05:40

Kapitel eins Zeitreise ins Original und wieder zurück zur Gegenwart

Katharina Lovecky: Ihre Frage war ja, ob wir heute in einem neuen Biedermeier leben. Und ich würde eher sagen, dass das, was das Biedermeier geprägt hat, uns eigentlich bis heute prägt. Wenn man jetzt die ganzen gesellschaftlichen Vorstellungen betrachtet. 00:06:03

Daphne Hruby: Was Katharina Lovecky, Kunsthistorikerin und Expertin für das 19. Jahrhundert, damit meint: mehreres. Beispielsweise das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, welches 1812 im österreichischen Kaisertum in Kraft trat und auch heute noch in Kraft ist. Zwar sei es seither laufend adaptiert worden, doch in den Grundzügen wurde so das Zivilrecht und damit eine bürgerliche Gesellschaft etabliert, die Österreich bis heute kennzeichnet, erklärt die Geschichtswissenschaftlerin und fährt fort. Im 19. Jahrhundert wurde ebenfalls der Weg für spätere Grundrechte in den Bereichen Arbeit und Wahlbeteiligung bereitet. Gleichzeitig zeichnete sich auch schon der Zerfall des monarchistischen Vielvölkerreichs und die Einläutung der europäischen Nationalstaaten Staaten ab. Worauf wiederum eine Reihe extremistischer Strömungen und zwei Weltkriege folgten, samt aller damit einhergehender Gräueltaten. Doch zurück ins Biedermeier. Dessen politische Geburtsstunde wird meist mit dem Wiener Kongress verbunden, bei welchem in den Jahren 1814 bis 1815 und nach der Niederlage Napoleons die europäische Machtverteilung neu geordnet wurde. Das Ende der Epoche wiederum sehen viele mit der Revolution 1848 eingeläutet, die im Zeichen der großen sozialen und ökonomischen Umwälzungen stand. Kunst war und ist dabei stets als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten. Ganz in diesem Sinne gibt Katharina Lovecky ihre Ausführungen in der Biedermeiersammlung des Wiener Belvedere zum Besten, die sie als Kuratorin verantwortet. Der künstlerische Zeitgeist lasse sich allerdings nicht so leicht auf ein Anfangs und ein Schlussdatum festnageln. 00:07:54

Katharina Lovecky: Weil malerische Strömungen nicht mit 1848 punktuell aufhören. Wenn wir jetzt an Ferdinand Georg Waldmüller denken, den Maler, den man am meisten mit dem Biedermeier in Verbindung bringt, der hat seine berühmtesten Werke nach 1848 geschaffen, und er ist 1865 gestorben. Das war das Jahr, in dem die Ringstraße eröffnet wurde. Und ich würde auch sagen, dass das in der Kunst die größere Zäsur war. 00:08:22

Daphne Hruby: Was zeichnet denn eigentlich den Stil des Biedermeier aus in der Kunst?

Katharina Lovecky: Ja. Also lassen Sie uns das direkt am Objekt erklären.

Daphne Hruby: Katharina Lovecky nutzt den Weg zum Ausstellungsraum, um mit einigen Vorurteilen über das Biedermeier aufzuräumen. Idealisiert, elitär, kitschig – so wird die Kunst des 19. Jahrhunderts oft beschrieben. Und tatsächlich gebe es auch solche Werke, räumt die Kuratorin am Wiener Belvedere ein. Aber Biedermeier sei eben nicht Biedermeier. Es habe unterschiedliche Stilrichtungen und Ansätze gegeben. Auf einen gemeinsamen Nenner könne man die damalige Mode allerdings doch bringen. 00:09:04

Katharina Lovecky: Das, was die Künstler und Künstlerinnen in dieser Zeit sehr bewegt hat, war die Hinwendung zur Gegenwart, zu gegenwärtigen Problemen. Es wurden auch historische Themen in die Gegenwart übersetzt, und das, was ganz groß im Kommen war, war natürlich das Bürgertum. Das war die wichtigste Auftraggeberschicht in dieser Zeit. Und daher haben wir auch sehr viele repräsentative Porträts. 00:09:30

Daphne Hruby: In denen sich das aufstrebende Bürgertum dann auch im besten Licht abbilden ließ. Wie heute galt auch damals: Wer etwas verkaufen möchte, muss sich nach den Wünschen des Auftraggebers richten. Damals war es äußerst en vogue, sich in den eigenen vier Wänden oder draußen beim familiären Picknick in Szene zu setzen. Daher auch die Zuschreibung des Biedermeier als Ära des Rückzugs ins Private. Gleichzeitig wurden die Probleme der weniger privilegierten Menschen auch nicht komplett ausgeblendet, wie Katharina Lovecky an einem Gemälde vor Augen und dem Radiopublikum vor Ohren führt. „Die erschöpfte Kraft“ von Ferdinand Georg Waldmüller. Darauf zu sehen eine Frau, die in ihrer kargen Stube ohnmächtig am Boden liegt. Ihr Gesicht wirkt so fahl, dass sich die Betrachterin fragt, ob sie gar verstorben sei. Der Raum ist sehr dunkel, die Nacht wohl bereits hereingebrochen. Einzig eine kleine Lampe spendet ein wenig Licht. 00:10:31

Katharina Lovecky: Auf dem Schreibtisch, den wir hier sehen, steht ein Nähkörbchen und eine angefangene Handarbeit. Es könnte sein, dass diese Frau in Heimarbeit versucht, sich ihr Gehalt aufzubessern. Oder sie arbeitet generell nur zu Hause gegen Lohn. Und wir sehen aber hier keinen Vater. Es dürfte sich hier um eine alleinerziehende Mutter handeln, die eben unter der Last der Kinderaufzucht und der Arbeit zusammengebrochen ist. Das waren durchaus Themen, die die Künstler und Künstlerinnen angesprochen haben in ihren Bildern. 00:11:08

Daphne Hruby: Und es sind auch durchaus Themen, die die Menschen heute wieder beschäftigen. Zwar sei die Armutssituation des Biedermeiers keineswegs mit den rezenten Zuständen vergleichbar. Österreich verfügt heute über einen ausgebauten Sozialstaat. Aber die Frage der Finanzierbarkeit des Lebensunterhalts für sich und seine Angehörigen bewegt derzeit viele. Auch die junge Generation. (…) Szenenwechsel ins Fünferhaus eine von 37 Einrichtungen des Vereins Wiener Jugendzentren. Hier können Heranwachsende verschiedensten Angeboten nachgehen. Sofort ins Auge fällt ein großer Billardtisch. Daneben spielen ein paar Burschen Tischfußball und einen Raum weiter die Variante mit größerem Ball. (…) Jugendliche finden hier aber auch Lernunterstützung und vor allem sozialen Austausch. Und so kommen in einem separaten Zimmer zwei junge Frauen auf ein Thema zu sprechen, das sie derzeit stark umtreibt: die finanzielle Absicherung ihrer Zukunft. Ronja Rösner ist gerade einmal 22 Jahre alt. Trotzdem macht sie sich jetzt bereits große Sorgen um ihre Pension und prophezeit sich selbst. Wie allen Gleichaltrigen: werde ich wahrscheinlich. 00:12:29

Ronja Rösner: Weil ich wahrscheinlich eh keine mehr bekomm und ich arbeite, seitdem ich 18 bin, hier in Österreich. Dass ich wahrscheinlich mehr als 40 Jahre eingezahlt habe und davon sehe ich wahrscheinlich nicht mehr viel. Früher war es relativ normal, dass eine Person, der Mann gearbeitet hat, sich ein Haus leisten kann. Drei Kinder. Und jetzt muss ich schon nachdenken: Hey, kann ich mir überhaupt zwei Kinder und vielleicht eine Wohnung oder ein Haus leisten, obwohl ich drei Jahre studiert habe, vielleicht noch einen Master mache und in der IT arbeite? Man kann, wenn man Glück hat, auch schon mehr in der IT verdienen, Aber einfach mal zack ein Haus kaufen kann ich mir in zehn Jahren wahrscheinlich trotzdem nicht, weil die Preise sind ja enorm gestiegen. 00:13:02

Daphne Hruby: Einmal beiseite gelassen, wie wahrscheinlich düstere Prognosen à la „keine Pension mehr“ faktisch eintreten werden. Dieses Stimmungsbild ist unter Jugendlichen weitverbreitet und das kann wiederum Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen. Welche Zukunft blüht uns, wenn die Zukunft selbst keine Zukunft mehr für sich sieht? 00:13:23

Jasmin Ledeum: Also das Wichtigste für mich ist, dass ich so viel Geld verdiene, dass Freunde und Familie, dass sie sich nie mehr Sorgen machen müssen um Geld. 00:13:30

Daphne Hruby: Sagt Jasmin Ledeum. Sie ist 17 Jahre alt.

Jasmin Ledeum: Also das Wichtigste für mich ist wirtschaftliche Sicherheit. Für mich und für andere. 00:13:38

Daphne Hruby: Weil du damit unabhängig bist.

Jasmin Ledum: Genau. Weil ich unabhängig bin. #00:13:42‑9#

Daphne Hruby: Sicherheit. Die wird Heranwachsenden generell immer wichtiger, wie Jugendstudien zeigen. Eine davon stammt vom Wiener Institut für Jugendkulturforschung und ist im Herbst 2024 erschienen. Befragt wurden 800 repräsentativ für Österreichs Bevölkerung stehende Menschen und das in der Altersspanne von 17 bis 79 Jahren. Denn Ziel sei auch ein Generationenvergleich gewesen, erläutert Bernhard Heinzlmaier, Vorsitzender des Instituts und seit mehr als drei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig. Die aktuelle Untersuchung seines Teams kommt zum Schluss: Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität stehen derzeit an der Spitze der Bedürfnispyramide und das generationenübergreifend. Für knapp die Hälfte der Befragten sei dieses Thema zentral. Bernhard Heinzlmaier beobachtet allerdings auch Unterschiede zwischen den Jahrgängen. Von den 14- bis 29-jährigen auch Gen Z oder Generation Z genannt, höre man meist. 00:14:47

Bernhard Heinzlmaier: Sie wollen eine sichere Arbeit haben, sie wollen ein Eigenheim haben, sie wollen eine funktionierende Familie haben, die eine emotionale Heimat ist also, alles in allem würde ich sagen, ein relativ konservatives Profil. Also da wünscht sich keiner das Leben in einer Kommune. Also wenn man das jetzt mit den 60er-, 70er-Jahren vergleicht, also wir leben in einer Kommune und ein freies Sexualleben, das hört man eigentlich relativ wenig. 00:15:15

Daphne Hruby: Aber auch das wieder generationenübergreifend. Laut erwähnter Befragung sehen gerade einmal 4 % einen alternativen Lebensentwurf als persönliches Ideal. Bei den 17- bis 29-Jährigen sind es allerdings noch weniger, nämlich 1 %. In den 70er und 80er Jahren habe das noch anders ausgesehen, meint Bernhard Heinzlmaier. Aber sind alternative Lebensmodelle damals tatsächlich mehrheitsfähig gewesen? 00:15:43

Manuela Smertnik: Ich traue mich mal zu behaupten, dass die 68 er Generation die war, die am meisten Häuselbauer waren und die einen Wohlstand auch erarbeitet haben, von dem viele jetzt auch leben in der Nachfolgegeneration. Aber auch da sozusagen in bestimmten Blasen. Ich mein, letztlich, wer waren die Achtundsechziger? Das war einmal eine Studentinnencommunity. 00:16:07

Daphne Hruby: Wirft Manuela Smertnik ein, Pädagogin und Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren. Der Großteil der sogenannten Babyboomer und der nachfolgenden Generation X – Letztere umfasst die zwischen 1965 und 1980 Geborenen – hat letztlich auch das kapitalistische und bürgerlich geprägte System mitgetragen, in dem wir bis heute leben, mit all seinen Schatten, aber auch positiven Seiten. 00:16:35

Bernhard Heinzlmaier: Was man den 1968ern schon zugutehalten muss: Es hat schon ein großes gesellschaftliches Umdenken gegeben.

Daphne Hruby: Meldet ich Bernhard Heinzlmaier, Vorsitzender des Wiener Instituts für Jugendkulturforschung und selbst Jahrgang 1960, zu Wort und fährt fort:

Bernhard Heinzlmaier: Beispiel Kreiskys Schulbuch-Gratisaktion. Und da sind ja plötzlich Tabus gebrochen worden. Oder der Schwangerschaftsabbruch, die Veränderung des Scheidungsrechts und alles Mögliche. Also da ist vieles von dem, was man heute für selbstverständlich nehmen, ist damals erkämpft worden. Also das war eine Bewegung, die schon was geleistet hat und die wenig angepasst worden. Ziemlich radikal. #00:17:14‑4#

Daphne Hruby: Aber waren die Menschen damals wirklich so radikal anders? Pädagogin Manuela Smertnik ist sich da nicht so sicher. Zumindest, wenn man analysiert, welches Bedürfnis hier wie dort dahinter steckt. Nämlich:

Manuela Smertnik: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Und für manche war es vielleicht die Kommune, in der sie waren, weil sie dort Zugehörigkeit und Anerkennung und Stabilität und Sicherheit gesehen haben und eine gemeinsame Vision, einen gemeinsamen Sinn sozusagen. Und für andere ist es einfach der Wunsch nach Familie und nach Sicherheit. Ich mein, worum geht es? Ein Haus, Eine Familie? Das ist, ja, da gehöre ich hin. Da muss ich mich nicht erklären. Da sind meine Leute, die verstehen mich auch wenn nach dem Familienbild da ziemlich verklärt wird. Weil wir wissen auch, dass Familien durchaus auch sehr konfliktbehaftet sind. Also es sind ja oft so Verklärungen und der Wunsch nach Sicherheit und Zugehörigkeit und Anerkennung. 00:18:11

Daphne Hruby: Wobei viele Jugendliche diesen Wunsch eben nun wieder eher in der Kleinfamilie erfüllt sehen. Wie Manuela Smertnik bestätigt. Betrachtet man die momentanen Entwicklungen der Gesellschaft und vergleicht sie mit dem Zeitgeist der 70er und 80er Jahre, ist das wenig verwunderlich. Damals herrschte große Aufbruchsstimmung und Vollbeschäftigung. Wer sich nicht um seine Zukunft sorgen muss, dem fällt es leichter, sich in alternativen Lebensmodellen auszuprobieren, als jemandem, der ständig davor gewarnt wird, welche verheerenden Konsequenzen auch nur ein einziger Fehler für einen selbst, aber auch den ganzen Planeten mit sich bringen kann. 00:18:49

Manuela Smertnik: Wenn man jetzt die Zukunftsperspektive hat – „Okay, hm, Pension, werde ich keine haben. Schauen wir mal, wie es mit dem Job ausschaut.“ – also es befördert ein bisschen mehr dieses „ich schaue mehr auf mich und ich schaue, dass es mir gut geht“. Vielleicht ist das auch ein Aspekt, weswegen wir jetzt so mit Work Life Balance das thematisieren ist alles gut usw aber ich denke, es hat auch was damit zu tun mal zunächst auf sich zu schauen und erst dann sozusagen auf die Gemeinschaft und auf die Solidarität. 00:19:18

Daphne Hruby: Wenn die Welt aus den Fugen bricht, zieht man sich auf jenen Bereich zurück, den man glaubt noch kontrollieren zu können. Diese Tendenz hat es auch im Biedermeier gegeben. Apropos: Geprägt wurde der Begriff in Deutschland, und zwar durch einen fiktiven Charakter, der als Paradefigur dieser Epoche in die Geschichte eingehen sollte. Gottlieb Biedermeier, seines Zeichens spießbürgerlich glücklich mit seinem kleinen Eigenheim, etwas einfältig und wenig interessiert an den gesellschaftlichen Entwicklungen der Außenwelt. Die literarische Urheberschaft ist umstritten. Fest steht, dass der Jurist Ludwig Eichrodt und der Arzt Adolf Kussmaul in der Münchner Wochenschrift „Fliegende Blätter“ eine Reihe von Schmähgedichten über ihren Herrn Biedermeier veröffentlichten. Das war in den 1850er Jahren. Der Begriff Biedermeier wurde dem Zeitalter also erst im Nachhinein übergestülpt, und das in verächtlicher Manier. Wenn das Biedermeier heute für eines steht, dann für Rückzug unterschiedlichster Art. Doch ist das zutreffend? 00:20:28

Kapitel zwei Rückzug aus dem Politischen

Daphne Hruby: Beginnen wir die Zeitreise, diesmal in der Gegenwart. Mein Ruf war noch nie so schlecht. Die Angelegenheit ist wirklich heikel, hauchte Taylor Swift ihren Fans entgegen. Die Amerikanerin ist derzeit die erfolgreichste Sängerin der Welt. Vor allem unter Heranwachsenden finden sich viele sogenannte Swifties. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Jugendlichen ihre Musik mögen. Warum wählt die Gestalterin dieser Sendung dann genau dieses Lied aus? Mögen sie sich nun vielleicht fragen. Nun, aus einem einfachen Grund, um Ihnen, verehrtes Publikum, etwas provokant ein Thema vor Ohren zu führen: Falsche Vorurteile. (Musik) Derartige Zuschreibungen über Jugendliche gibt es so einige. Dabei wird großteils über sie gesprochen, aber wenig mit ihnen. Besonders in der Corona-Zeit waren sie vieles einmal Superspreader oder gar Gefährder, dann wieder Gefährdete, um schließlich lost zu sein. 00:21:55

Ronja Rösner: Lost Generation. Also ich finde das ist halt einfach Bullshit, sage ich jetzt einfach mal so. 00:22:00

Daphne Hruby: Als Kuhscheiße oder weniger wörtlich übersetzt als kompletten Schwachsinn erachtet Ronja Rösner derlei Schubladisierungen. Sie selbst werde der Generation Z zugerechnet. 00:22:13

Ronja Rösner: Es kommt einfach darauf an, Land- oder Dorfkind, in welchem Land man aufgewachsen ist, wie die Eltern sind. Einfach alles daran macht ja einen besonders. Klar, man kann schon kategorisieren. Ja, von dem Jahr bis zu dem Jahr sind Leute geboren. Aber wenn ich vergleichen würde, wie ich aufgewachsen bin, wie jemand zum Beispiel aus Afrika, ist ein komplett anderes Leben. Es gibt da immer so Memes oder auch Artikel so, Gen Z das macht diese Generation aus. Aber es ist ja in jedem Land oder fast in jedem Ort ziemlich unterschiedlich. 00:22:39

Daphne Hruby: Ein weiteres Vorurteil, das häufig zirkuliert Jugendliche seien zunehmend unpolitisch. Und wenn, dann würden sie sich nur für ein spezielles Thema interessieren. Dieses Klischee ärgert die 17-jährige Jasmin Ledum. 00:22:53

Jasmin Ledum: Also ich finde, die Medien wollen halt nur darauf fokussieren und sagen Oh, jugendliche Politik, Oh, du bist sicher sehr interessiert an Klima oder Du willst sicher die die Grüne etc. aber so wie wir es ja auch gesehen haben, die FPÖ hat klar gewonnen, dass viele Jugendliche nicht so links sind, wie wir es in den Werbungen sehen und in den Medien sehen. 00:23:15

Daphne Hruby: Die FPÖ war bei der Nationalratswahl 2024 auch bei den Unter 35-Jährigen stärkste Partei. Die Grünen sind in dieser Altersgruppe auf Platz fünf gelandet. Dafür hätte die junge Generation, wäre es nur nach ihr gegangen, die Bierpartei und die Kommunistische Partei ins österreichische Parlament gehievt. Jasmin Ledum überrascht das nicht, denn: 00:23:40

Jasmin Ledum: Es gibt sehr viele Jugendliche, die sich heutzutage kommunistisch oder sozialistisch nennen. Also es gibt da die jugendlichen Kommunisten. Dann gibt es die konservativen, traditionellen. Und dann gibt es religiös, politisch. Also ob konservativ von dem Islam oder konservativ von dem Christentum. Und dann gibt es eher die Neoliberalen, die sehr für Veganismus und Klima sind. Also es gibt mehr als nur Leute, die bei Fridays for Future mitmachen. 00:24:06

Daphne Hruby: Und es gebe auch junge Leute, die sich gar nicht um Politik scheren und sich lieber ein süßes Katzenvideo, einen Schminkclip oder ein Trainingsreel nach dem anderen ansehen. Diese Interessens-Divergenzen sind allerdings nichts Neues. Man findet sie auch in allen Generationen. Bereits im antiken Griechenland wurde über Menschen berichtet, die sich nicht am politischen Leben beteiligten, sondern primär um sich selbst, ihre Familie und ihren Haushalt kümmerten. Diese Leute bezeichnete man als Idiotes. Daneben gab es natürlich auch noch solche, die gar nicht wählen durften. Dass sich die heutige Jugend sehr für den Klimawandel interessiert, ist für Jasmin Ledum und Ronja Rösner verständlich. Immerhin, so die beiden, würde ihre Generation die Auswirkungen auch stärker zu spüren bekommen. Wobei Ronja Rösner auch kritische Töne gegenüber der Bewegung anschlägt. 00:25:01

Ronja Rösner: Also ich muss sagen, Fridays for Future, irgendwie bin ich da eine sehr geteilte Meinung. Ich finde es super. Gleichzeitig kenne ich auch viele Leute, die es dann benutzt haben, um schulfrei zu kriegen, was ich dann auch nicht so gut finde. Für mich sind das Klima und Tiere sehr wichtig. Und auch einfach Selbstbestimmung der Frau. Bei uns ist es zum Glück noch gut, aber wenn man zum Beispiel einen Blick in die USA wirft so was machen die da. Und wenn man bedenkt, dass die FPÖ sehr viel gewählt werden und die auch eher in die Richtung der Rechten der USA gehen. Recht auf Abtreibung und solche Sachen, die immer wichtiger werden und halt auch immer noch Gleichberechtigung. Klar, es wird besser, aber ich weiß nicht. Ich habe mal eine Statistik gesehen, dass wir noch 100 Jahre brauchen, zumindest in Österreich, dass Frau und Mann wirklich komplett gleichberechtigt sind. 

Jasmin Ledum: Also das Nummer eins Thema ist für mich Feminismus. Arbeiter sind mir sehr wichtig und Frauen sind mir auch sehr wichtig. 00:25:46

Daphne Hruby: Und wenn ihnen etwas sehr wichtig ist, dann würden sie dafür auch auf die Straße gehen, meinen die zwei. Gleichzeitig beanstandet Jasmin Ledum, ihre Altersgruppe sei dort tatsächlich weniger anzutreffen als einst jene ihrer Eltern und Großeltern. Der Grund: Es sei ihnen einfach sehr vieles sehr peinlich, so die 17-Jährige. Ansprüche und Realität klafften zunehmend auseinander. 00:26:11

Jasmin Ledum: Wir sind halt auch auf den sozialen Medien, wo oft ein perfektes Leben gezeigt wird. Ich würde sagen, dass wir uns sehr viel selbst isolieren, meine Generation, und dass viele halt auch nicht mehr rausgehen und nicht mehr miteinander kommunizieren und halt Smartphone Zombie, Smombie. Noch ein Grund, wieso wir auch nicht sehen, dass Jugendliche wirklich protestieren gehen und Sachen draußen machen ist halt: Erstens, wenn man sehr politisch engagiert ist, dann ist es halt schwerer, einen Job zu finden. Am meisten, wenn Sie etwas sehr Kontroverses glauben. Wir sind politisch, aber nicht so, wie es früher war. 00:26:49

Daphne Hruby: Warum? Wovor habt ihr da Sorge, was passieren könnte? 00:26:52

Ronja Rösner: Also ich glaube einfach, unsere Generation ist noch komplett von Corona verstört. So, Menschenmassen. Oh mein Gott. Mir ist das aufgefallen. Das erste Mal, als ich wieder auf eine Messe gegangen bin, dachte mir „Oh Gott“, so viele Menschen und auch einfach, Ich habe das Gefühl, meine Generation allgemein macht protestieren eher durch andere Sachen, durch Marken boykottieren und so, dass sie sich einfach in ihrem eigenen Leben entscheiden. Ich kaufe das nicht mehr oder ich unterstütze es nicht mehr und dadurch mache und nicht: Hey, ich stell mich jetzt auf den Platz und schreie mit nem Mikrofon rum. Weil klar, es gibt meistens einen Newsbeitrag und Leute regen sich auf „die BIM fährt schon wieder nicht“. Aber wirklich ins Parlamentshaus kommt es dann meistens nicht. 00:27:28

Daphne Hruby: Viele Jugendliche fühlen sich und ihre Sorgen nicht von der Politik wahrgenommen und das aus gutem Grund, moniert Manuela Smertnik, Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren. Als solche weiß sie: Besonders in den Corona-Jahren wurden oftmals die Heranwachsenden vergessen. Österreich gehörte zu den negativen Spitzenreitern Europas bei Schulschließungen und Lockdowns. Psychische Belastungen und große Bildungslücken seien nun die Folge. Letztere träfen Kinder und Jugendliche aus Nicht-Akademikerhaushalten, prekären Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund besonders hart, berichtet die Pädagogin. Für diese Gruppen fungiere das Jugendzentrum häufig als erweitertes Wohnzimmer. Dort fänden sie den Raum, den sie in ihrem beengten zu Hause nicht hätten. Die Jugendzentren mussten aufgrund der Covid-Maßnahmenpolitik aber auch einige Zeit geschlossen bleiben. Manuela Smertnik schildert, was das für mehrere ihrer Schützlinge bedeutet hat. Da sei beispielsweise dieses junge Mädchen gewesen. 00:28:31

Manuela Smertnik: Die hat keinen Laptop oder Tablet oder sonst irgendwas gehabt und die hat zu Hause auch kein WLAN gehabt. Die ist immer zum Spar gegangen und hat beim Spar sich die Hausübung runtergeladen und hat gesagt, wenn das Jugendzentrum nicht offen hat, wo ich die Möglichkeiten nutzen kann, dann muss ich das halt mit dem Handy machen und hat das dann so gut wie möglich auch am Handy geschafft, ohne Unterstützung von sonst irgendwem. 00:28:52

Daphne Hruby: Andere wieder haben die Zeit für ein familiäres Beisammensein genützt. Die sozialen Realitäten in den Covid-Jahren, so Manuelas Smertnik, waren sehr unterschiedliche. 00:29:03

Manuela Smertnik: Ich meine, man muss auch dazu sagen, dass gerade unsere Zielgruppen in den ersten Phasen der Corona-Pandemie die allerersten waren, die sehr hohe Strafen bekommen haben, die 500 €, zum Teil 1.000 € Strafen bekommen haben, nur weil sie sich getroffen haben im öffentlichen Raum, zu zweit, zu dritt, mangels Rückzugsmöglichkeiten im Privaten. Andere Jugendliche haben sich halt zu Hause getroffen oder im Garten getroffen oder so. Das haben viele unserer Zielgruppen so in dem Sinne nicht. Die haben sich im öffentlichen Raum getroffen und haben sich dann mit hohen Strafen rumschlagen können. 00:29:36

Daphne Hruby: Den Rückzug ins Private muss man sich erst einmal leisten können. Das galt auch im Biedermeier. Während es dem Bürgertum möglich war, sich im kleinen Kreis im Salon zu versammeln, schufteten und lebten die Arbeiterinnen und Arbeiter gemeinsam auf engstem Raum. Die Geschlechterrollen waren hier wie dort klar verteilt. In manche dieser reaktionären Muster sei man in den Corona-Jahren auch wieder zurückgefallen, erinnert sich Manuela Smertnik. Das alles hinterlässt Spuren. Diese stammen keineswegs nur aus den Corona-Jahren. 00:30:09

Bernhard Heinzlmaier: Man darf ja nicht vergessen, dass die Generation Z ja eigentlich aufgewachsen ist. Mit ständigen Krisen und mit ständigen Drohungen und Bedrohungen. 00:30:17

Daphne Hruby: Meldet sich Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier zurück in die Science Arena. Die Lebensumstände prägen den Zeitgeist. Unter diesem entstehen Strukturen und diese Formen die Menschen, die in diesen leben und dabei auch reüssieren müssen. 00:30:32

Bernhard Heinzlmaier: Also nach der Jahrtausendwende geht es eher in die Richtung, dass man heute ganz genaue Jobdescriptions zum Beispiel hat. Und da werden die Leute eingepasst und dass man irgendwie davon ausgeht, zumindest so unterschwellig, das nonkonformistische Menschen eigentlich die Abläufe stören. 00:30:50

Daphne Hruby: Wer sich anpasst, werde heute belohnt, analysiert Bernhard Heinzlmaier. Hinzu kämen gesellschaftliche Umbrüche diverser Art. 00:30:58

Bernhard Heinzlmaier: Wenn man anschaut 2015 die Migrationskrise, dann sowieso die Klimakrise, die das Ganze ständig begleitet hat. Dann die Corona-Krise, jetzt Wirtschaftskrise mit Teuerung und ich weiß nicht was. Dass die ein Sicherheitsbedürfnis haben, das hängt einfach mit dieser multiplen Krisensituation zusammen, mit der sie aufgewachsen sind. 00:31:18

Daphne Hruby: Das betrifft keineswegs nur Heran-, sondern auch Ausgewachsene. Am Institut für Soziologie der Universität Wien läuft derzeit ein Forschungsprojekt an der Abteilung für Politische Soziologie. Das Thema: Wie kommunizieren österreichische Politikerinnen und Politiker auf der Digitalplattform X, einst Twitter“ über und mit dem Wort Krise? Mehr als 1 Million Beiträge hat das Team bereits unter die Lupe genommen. Mit an Bord Till Hilmar. Sein Resümee Krise ist in aller Munde. Die Grünen warnen vor der Klimakrise, die FPÖ vor der Flüchtlingskrise und die ÖVP vor der Energiekrise. So weit, so wenig überraschend. Spannender wird es, wenn der Soziologe mit der Tiefenbohrung beginnt. Und? 00:32:09

Till Hilmar: Was hier irgendwie auch deutlich wird, ist, dass dieser Krisenbegriff ein Versuch ist, Krisen zu definieren. Also was ist sozusagen überhaupt die gesellschaftliche Krise? Das wird für diese Parteien anscheinend zunehmend zu einer Art und Weise, auch ihren Zugriff auf Gesellschaft, ihr Programm, der Grund, warum sie sozusagen überhaupt Politik machen, auch gewissermaßen zu legitimieren und die Krisenbegriffe von anderen Parteien nämlich zu delegitimieren. Das sehen wir auch, dass zum Beispiel die Grünen ganz stark natürlich gegen die Verwendung dieses Flüchtlingskrisen-Begriffs argumentieren, weil das ist sozusagen eine Krisendiagnose, die von rechts kommt, wiederum die Freiheitlichen den Klimakrise-Begriff ablehnen, weil das wird auch als eine sozusagen apokalyptische Vision von links definiert. Also es gibt sozusagen ein Ringen um diese Krisenbegriffe, die mit unterschiedlichen Inhalten besetzt werden. 00:32:56

Daphne Hruby: Also quasi die Apokalypse ist gewiss, nur man kann sich dann aussuchen, an welcher man zugrunde geht. 00:33:02

Till Hilmar: Könnte man so sagen (beide lachen). Also man konsumiert gewissermaßen auch gewisse Erzählungen und versucht auch, glaube ich, das kommt bei Social Media dazu, das auch weiter zu verbreiten. Man ist selbst Teil einer Mobilisierungsstrategie, gewissermaßen. Also man ist nicht nur Konsument davon, sondern man versucht auch selber sozusagen andere da auch mit zu mobilisieren. 00:33:21

Daphne Hruby: Mobilisierung ist das Zauberwort. Die gestalte sich nämlich zunehmend schwieriger, beobachtet Felix Stalder, Kultur und Medienwissenschaftler an der Zürcher Hochschule der Künste. In einer Zeit der multiplen Krisenerzählungen verliert die Bezeichnung Krise auch irgendwann ihre Bedeutung. Die Folge: Immer mehr Menschen wenden sich ab. Andere wieder schließen sich einer der Betrachtungen an und gehen in Konfrontation zu anderen. Und viele weitere, vielleicht sogar der Grossteil schweigt, weil er sich im Positionierungszwang zwischen den Fronten zerrieben fühlt. Ein gemeinsames gesellschaftliches Narrativ, so Felix Stalder, suche man derzeit vergeblich. 00:34:06

Felix Stalder: Die Vorstellungen der Zukunft sind so extrem unterschiedlich geworden. Es gibt diejenigen, die sozusagen das unmittelbare Ende der Menschheit vor Augen haben. Damit kommt natürlich eine ganz spezifische Ordnung raus, was ist wichtig, was ist nicht wichtig? Was heißt das, wenn wir es noch verhindern wollen? Was heißt das, wenn wir uns damit abgefunden haben, dass wir es nicht mehr verhindern können? Das ist ja eine Narration, die dann gewisse Dinge ordnet, während andere sagen: Nein, nein, nein. KI und Kernfusion wird uns retten und wir steuern auf ein goldenes, interplanetares Zeitalter zu. Und was nicht mehr möglich ist, und das hat eben sozusagen diese aufsteigende Formation im 19. Jahrhundert geschafft, eine Erzählung durchzusetzen. Also sowohl die sozusagen marxistische Linke wie auch das liberale Bürgertum hat an ein Fortschrittsversprechen geglaubt. 00:35:02

Daphne Hruby: Heute hingegen glaube jeder an seine eigene Rückschrittsdrohung. Wobei sich auch im Biedermeier die Vorstellungen über ein ideales Gesellschaftsmodell stark unterschieden haben, was es vor knapp 200 Jahren allerdings gab: Das aufstrebende Bürgertum, das durch die Industrialisierung zu Wohlstand gekommen war, auf der einen und die steigende Unzufriedenheit von Arbeiterinnen und Arbeitern auf der anderen Seite. Bei aller Verschiedenheit verband diese Gruppen eine gemeinsame Brücke. Die Forderung nach mehr Grundrechten und ein Zurückdrängen der absolutistischen Monarchieherrschaft in Österreich. Auf diese Art wurde ein neues System erkämpft und damit ein Sozialstaat samt Grundrechten, Gewerkschaften sowie ein Paritätsverhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern. Das hat viele Jahrzehnte gebraucht. Heute seien die gesellschaftlichen Gruppen um einiges facettenreicher und damit aber auch fragmentierter, erklärt der Kulturwissenschaftler. Der eine typische Arbeiter sei, Geschichte. 00:36:08

Felix Stalder: Es ist nicht mehr so, dass alle gemeinsam ins Fabriktor gehen und aus der Fabrik wieder rauskommen um fünf und dieselbe Erfahrung gemacht haben, dieselbe Erfahrung von unsicheren Arbeitsplätzen, von sozusagen Dreck, von Erniedrigung, von Prekarität, sondern jetzt ist das hoch individualisiert. Die Arbeiterinnen haben immer weniger miteinander zu tun. Sie sind natürlich auch durch diverse Managementstrategien immer stärker voneinander geteilt, eben diese Festangestellten, Leiharbeiter, Zeitangestellten usw. Das sind ja alles Formen, die es im 19. Jahrhundert in dieser Form noch nicht gab. Und das macht es natürlich extrem schwierig, von einer gemeinsamen Erfahrung, von einer solidarischen Erfahrung zu sprechen, weil jeder denkt, das Problem individuell lösen zu können. 00:36:59

Daphne Hruby: Gesellschaftliche Reformen lassen sich allerdings nur im Kollektiv durchsetzen, gibt Felix Stalder zu bedenken und meint, die Situation habe sich seit dem 19. Jahrhundert und dabei gerade auch in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Die Politik hinke dieser Veränderung hinterher. Aber nicht nur die. Auch Institutionen wie traditionelle Medien und christliche Kirchen verlieren zunehmend ihre Anhängerschaft. 00:37:24

Felix Stalder: Und jetzt kämpfen ganz viele neue Formationen darum, in dieses Vakuum vorzudringen und ihre eigenen Vorstellungen und ihre eigenen Institutionen, ihre eigenen Foren, ihre eigenen, sozusagen gouvernementalen Mechanismen, also Wie organisiere ich eine Gesellschaft, durchzusetzen? 00:37:44

Daphne Hruby: Einst dominante Industrien wie etwa der Automobilsektor, aber auch der niedergelassene Handel büßen zunehmend Boden ein, was wiederum prekärere Arbeitsbedingungen und Streiks bis zu Jobverlusten nach sich zieht. Gleichzeitig entstehen neue Branchen, beispielsweise im Digitalbereich. Immer mehr Menschen erachten die regierenden Parteien aber als zu schwach, um diese Konflikte lösen zu können, sagt Felix Stalder. Sich dort zu engagieren, werde daher uninteressanter. Das wird dann oft als Politikverdrossenheit interpretiert. Dabei ist die Beteiligung bei den Nationalratswahlen 2024 wieder gestiegen, nachdem sie 2019 gefallen war. 00:38:28

Bernhard Heinzlmaier: Die Politik ist ganz offensichtlich wählerverdrossen. 00:38:33

Daphne Hruby: Dreht Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier den Vorwurfsspieß um. 00:38:37

Bernhard Heinzlmaier: Das heißt, das Volk tauscht nicht mehr die Politiker aus, wenn es mit seinen Repräsentanten nicht zufrieden ist, sondern die Repräsentanten versuchen, das Volk auszutauschen. Das erinnert wirklich alles an diesen Sager von Bertolt Brecht, dass sich die Politik, ein anderes Volk sucht. 00:38:51

„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Daphne Hruby: Schrieb Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Lösung“, das ganz im Zeichen des Volksaufstandes 1953 gegen das kommunistische Regime in der DDR stand. Woran macht Bernhard Heinzlmaier seinen rezenten Eindruck fest? An den um sich greifenden Regulierungs- und Überwachungsmaßnahmen – digital wie analog – antwortet der studierte Philosoph und unterstreicht noch einmal: 00:39:28

Bernhard Heinzlmaier: Die Parteien sind mit dem Volk unzufrieden und deswegen muss man das Volk umerziehen. Deswegen muss man das Volk kontrollieren. Deswegen muss man irgendwelche Meldeeinrichtungen machen, die kontrollieren. Wie verhält sich das Volk in den sozialen Medien? Wie verhalten sie das Volk am Arbeitsplatz? Was liest das Volk für Zeitungen? Sind es die richtigen? Sind es die Falschen? Also das heißt, dieses ganze Kontrollsystem, das da jetzt vor allem in Deutschland ist ein Wahnsinn, was da eingeführt wird, das widerspiegelt ja nichts anderes wie die Unzufriedenheit der Politik. Man muss es ja nicht Volk nennen, mit den Wählern, mit den Wählern und Wählerinnen, mit den Menschen, mit der Masse. Aus der Sicht der Politik stellt sich das so dar, dass die Masse zurückgeblieben ist. Die Masse ist hinter der Avantgarde zurückgeblieben. Die Politik ist die Avantgarde, die Masse ist zurückgeblieben und die muss man jetzt mit allen Mitteln, also mit Freundlichkeit oder auch mit Kontrolle oder mit Drohungen, muss man dich dazu bringen, dass sie aufschließen. 00:40:28

Daphne Hruby: Das sei beim Flüchtlingsthema so gewesen, wo es zuerst hieß „Wir schaffen das“ und nun zunehmend „Wir schaffen das wohl doch nicht“. Das sei beim Klima fortgesetzt worden, wo zunächst postuliert wurde „je greendealiger, desto besser“ und jetzt wieder das Motto lautet „Industrie first“. Das sei bei Corona auf die Spitze getrieben worden, wo eine Bevölkerungsgruppe nach der anderen gegeneinander ausgespielt wurde. Das sei nahtlos in den Ukrainekrieg übergegangen, wo Putin-Partner plötzlich auf Putin-Hasser umsatteln und begannen, auf Putin-Versteher zu schimpfen. Und das gehe nun bei Energie, Arbeit, Teuerung, Digitalisierung, Gesundheit und noch vielen anderen Themen weiter. Und da soll sich noch irgendjemand auskennen? 00:41:17

Musik – Georg Kreisler „Meine Freiheit, Deine Freiheit“: Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein. Meine Freiheit Ja. Deine Freiheit Nein. Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert. Deine hat bis jetzt nicht interessiert. 00:41:26

Kapitel drei – Rückzug aus dem Debattenraum

Musik Georg Kreisler: Wenn ich meine Freiheit nicht habe, hast du deine Freiheit nicht. Und meine Freiheit wird dadurch zu deiner Pflicht. Und darum sage ich dir, verteidig meine Freiheit mit der Waffe in der Hand und mit der Waffe in den Händen deiner Kinder, damit von deinen Kindern keines bei der Arbeit je vergisst, was Freiheit ist. 00:41:44

Daphne Hruby: Ja, wie viel Freiheit verträgt eine Gesellschaft eigentlich? Diese Frage stellte Georg Kreisler in den 1980ern in den Raum. Dort steht sie allerdings schon viel länger und auch bis heute mittlerweile vielfach beantwortet, aber niemals endgültig gelöst. Gesellschaft ist ein immerfort laufender Aushandlungsprozess. Im Biedermeier herrschte staatliche Zensur à la Metternichsches System. Wer unliebsame Meinungen hinausposaunte, wurde hart bestraft. Freie Medien suchte man vergeblich. Heute seien es eher Selbstzensur und vorauseilender Gehorsam, die um sich greifen, urteilt Bernhard Heinzlmaier. 00:42:27

Bernhard Heinzlmaier: Was darf ich sagen oder was darf ich nicht sagen? Da kriegt man ja heute schon einen Katalog. Das sind die richtigen Begriffe, die falschen Begriffe. Und wenn man sich diesen Konventionen unterwirft, dann ist man halt gut gelitten. Und wenn man sich den Konventionen nicht unterwirft, dann wird man halt rausgeschmissen oder wird als unsensibel und nicht gesellschaftsfähig bezeichnet. Dieser hypermoralische Radikalismus in dieser Phase befinden wir uns, die den Leuten, egal wer das jetzt ist, welcher Seite sie stehen, unsäglich auf die Nerven gehen und die einfach diese Debatte nicht mehr hören wollen und schon gar nicht daran teilnehmen wollen, weil die eben lebensfremd ist. Also die Menschen haben andere Sorgen, als über ihre Pronomen zu diskutieren. 00:43:11

Daphne Hruby: Bernhard Heinzlmaier beobachtet eine Überregulierung in sehr vielen Bereichen. Anna Durnova, Politikwissenschaftlerin und Leiterin des Instituts für Soziologie an der Universität Wien, schlägt einen anderen Blickwinkel vor, den der Diversität. 00:43:27

Anna Durnova: Dass wir sagen, wir wollen jetzt auch alle inkludieren, auch diejenigen, die wir vorher nicht inkludiert haben, an die wir nicht gedacht haben. Und gleichzeitig heißt es natürlich im Alltag auch oft, dass wir lange eingelebte, dominante Kulturmuster nicht mehr verfolgen können, weil unsere Geschichte patriarchal, kolonial und rassistisch ist, zum Teil. Darauf baut die Modernität auf. Das heißt, wir rütteln schon an dieser patriarchalen, rassistischen und kolonialen Modernität, verkürzt gesagt. Also von dem her ist es klar, dass wir auch hier einen Kontrollverlust erleben und uns denken: Oh Gott, Überregulierung. Wir könnten das aber auch umdrehen und sagen, dass das, was diese Überregulierung ist, oder das, was für mich als Angehöriger einer dominanten Gruppe eine Überregulierung ist, ist für jemanden, der nicht privilegiert ist, eine Möglichkeit ist, an den Tisch zu kommen. 00:44:20

Daphne Hruby: Eines ist gewiss: Einigkeit sucht man hier vergeblich. Aber darum soll es in dieser Sendung auch gar nicht gehen, sondern um Diskussion. 00:44:29

Jasmin Ledum: Also die Cancelkultur. Ich finde, das ist der größte Schwachsinn. Ich finde, das ist etwas von unserer Generation, wo wir uns selbst ein bisschen in den Fuß schießen, wenn man alles cancelt. Ich finde, offener Diskurs ist das Wichtigste. #00:44:44‑4#

Daphne Hruby: Jasmin Ledum, 17 Jahre alt, betritt erneut den Debattenring. Begleitet wird sie von Ronja Rösner, 22 Jahre alt. Die nimmt diesmal die gegenüberliegende Seite ein, kommt aus der Deckung und argumentiert. #00:45:01‑2#

Ronja Rösner: Ich finde öffentlichen Diskurs auch voll wichtig, aber in beide Richtungen muss man irgendwann eine Grenze ziehen, weil Nazisachen…? Aber ich habe auch schon von der linken Seite Leute sagen hören, wenn Leute viele Kinder haben, dass sie dann ein Breeding Kink haben, nennt man das halt so, dass man es halt so darstellt: „Boah, Du hast viele Kinder. Du bist gegen das Klima.“ Das Problem ist, wo setzt man die Grenze? Wann ist es menschenverachtend? Das Problem ist, das setzt jeder seine Grenzen selbst. Bei mir ist rechts ganz schnell Schluss mit bestimmten Aussagen. Ich bin halt Vegetarier. Ich bin da wahrscheinlich manchmal extremer als die meisten Menschen. Dass ich nicht so toll finde, dass wir so viele Tiere töten und meistens auch unnötigerweise. Also ich finde das Problem: Wer entscheidet da? Wo ist die Grenze? 00:45:41

Daphne Hruby: Ronja Rösner würde diese nicht erst bei strafrechtlich relevanten Taten ziehen, sondern auch schon davor bei Beleidigungen und Diskriminierungen. Jasmin Ledum nimmt den Ball auf, dribbelt, zielt und kontert. 00:45:55

Jasmin Ledum: Ich habe da eine komplett andere Meinung. Viele stimmen mir da nicht zu, aber ich bin für radikale Meinungsfreiheit. Also egal wie absurd, egal wie unfaktisch, egal wie verstörend es ist, ich finde, es soll gesagt werden. Weil wenn es nicht gesagt wird, dann wird es auf andere Weise gesagt. 00:46:15

Daphne Hruby: Jasmin Ledum ist dunkler Hautfarbe. Eigentlich sollte das an dieser Stelle nichts zur Sache tun. Tut es aber. Und das alleine sagt schon so einiges über unsere Gesellschaft aus. Die 17-jährige begründet ihren Ruf nach absoluter Meinungsfreiheit folgendermaßen: 00:46:33

Jasmin Ledum: Es wird immer Hass geben und es wird immer Rassismus geben. Und es gibt immer Menschen, die wirklich schreckliche Sachen denken, die komplett unfaktisch sind, schrecklich sind. Ich finde, es wird es für immer geben. Und ich finde, wenn wir das aus dem Sack lassen und wenn wir uns gleich um das Problem kümmern, dann wird es halt nicht schlimmer. Ich finde, dass wenn sie halt wirklich zeigen, wer sie sind und wie sie denken, dann ist es viel leichter, erstens die zu entlarven. Ich finde, es ist viel einfacher, wenn Menschen wirklich ehrlich sind und genau das sagen, was sie denken, als wenn sie sich Sorgen machen wegen den Gesetzen und eh einen Weg finden, das zu sagen, was sie denken. Nur anders. 00:47:15

Daphne Hruby: Nämlich im Verborgenen. Und dort werde Radikalität erst richtig groß, so die Warnung der 17-Jährigen. Gleichzeitig gesteht Jasmin Ledum ein. Gerade ihre Generation habe große Angst, etwas Falsches zu sagen oder auch nur einen Fehler zu begehen. Ein Grund dafür sei ihr ständiger Begleiter das Smartphone. 00:47:37

Jasmin Ledum: Heutzutage fühlen sich Menschen generell mit der Technologie beobachtet. Hört dieses Gerät wirklich bei allem zu, was ich sage? Und könnte das ein Nachteil sein in der Zukunft, beruflich etc.? 00:47:52

Daphne Hruby: An diesem Punkt reichen sich Jasmin Ledum und Ronja Rößner im Debattenring die Hände. 00:47:57

Ronja Rößner: Durch Handys ist es schlimmer geworden. Ich habe so einen Clip gesehen. Da sieht es aus, als würde man jemanden überfallen. Aber eigentlich rettet er ihn vor dem Auto. Es kommt immer auf den Winkel an und wenn jemand das Handy rausholt, kann es so schnell auf Winkel oder wo es genau startet, komplett anders ausgelegt werden. Und auch wenn es eigentlich illegal ist, Leute fremd zu filmen man sieht auf Social Media so viele Funny Clips, die meistens gar nicht von der Person selbst reingestellt wurden. 00:48:22

Daphne Hruby: Zur Schlussrunde gesellt sich Bernhard Heinzlmaier dazu und nimmt zur Unterstützung die amerikanische Zukunftsforscherin Faith Popcorn mit. Die hat in den späten 1980er Jahren den Begriff des Cocooning geprägt. Die menschliche Geschichte eine ewige Abfolge von Déjà-vus. Denn wenn sich der Jugendforscher momentan so umblickt, kann er nicht umhin zu attestieren. 00:48:47

Bernhard Heinzlmaier: Jeder bilde zu Kokone. Und dort sitzt man dann drinnen und vielleicht mit den letzten zwei, drei Vertrauten. Und das geht nur mehr um die Ausgestaltung dieses Kokons. Da geht es nur mehr, sich schön einzurichten. Und das Auto, das wird auch ganz persönlich gestaltet. Das ist dann ein mobiler Kokon. So Monaden, die sich von außen abgrenzen, wo man alle Fenster zumacht und die Innenwelt gestaltet. Und da drinnen lebt man dann. Das sind die letzten Orte der Geborgenheit. Und ich habe das Gefühl, dass in diese Richtung die Entwicklung jetzt wieder total geht. 00:49:21

Daphne Hruby: Aber das ist ja dann genau das Biedermeier. 00:49:23

Bernhard Heinzlmaier: Ja, das ist das Biedermeier. Natürlich. Das ist eine neue Form des Biedermeier. Das hat natürlich ästhetisch mit dem Biedermeier des 19. Jahrhunderts nichts mehr zu tun. Aber es ist vom Wesen her, und wenn man das so sagen kann, ist es das Biedermeier. 00:49:37

Daphne Hruby: Ob wir in einem neuen Biedermeier leben, komme ganz auf die Perspektive an, resümiert Felix Stalder, Kultur und Medienwissenschaftler an der Zürcher Hochschule der Künste. Zugleich beobachtet er auch, dass sich manche nach Dingen sehnen, die mit dieser Epoche verknüpft werden – Häuslichkeit, familiäre Wärme, aber auch das Bedürfnis nach einfachen Lösungen für zunehmend komplexe Fragestellungen, nach Gemächlichkeit in Zeiten der Beschleunigung, nach Altbewährtem angesichts des drohenden Identitätsverlusts. Im Biedermeier hat sich das Bürgertum mangels öffentlicher Debattenräume in den Privatbereich zurückgezogen. Gleichzeitig war es auch diese Gesellschaftsgruppe, die verstärkt nach freien Medien ohne staatliche Zensur rief, die dann auch kamen, wieder verschwanden, wieder erstanden und heute wieder unter Beschuss stehen. Das alles spielt sich nicht mehr nur in analogen, sondern zunehmend auch in digitalen Sphären ab. Das Internet ist vieles. Man kann sich dort zurückziehen, in Safe Spaces bugsieren, sich komplett isolieren oder auch mit der ganzen Welt in Kontakt treten, dabei zugleich für jedermann wie -frau sichtbar und dadurch aber auch angreifbar werden. Um all dem beizukommen, wird nun verstärkt auf Filter, Triggerwarnungen bis hin zu Zensur und Löschungen gesetzt. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Felix Stalder ist skeptisch. Für den Autor des Buchs „Kultur der Digitalität“ steht fest: Die Technik wird keine menschlichen Probleme lösen. Diskussionen können anstrengend sein. Diese Fertigkeit müsse man erlernen, man dürfe es keiner Maschine überlassen. Das Biedermeier war widersprüchlich. Das ist unsere Welt heute umso mehr. Die Frage, die sich stellt: „Halten wir das gesellschaftlich aus?“ 00:51:34

Felix Stalder: Wenn wir vorher darüber gesprochen haben, dass man immer mehr das Gefühl hat, dass man gewisse Dinge nicht mehr sagen darf, sind natürlich diese Technologien einen Schritt weiter. Immer mehr Dinge können wir gar nicht mehr denken. 00:51:48

Daphne Hruby: Was ist die Konsequenz daraus? 00:51:50

Felix Stalder: Wenn man das jetzt psychoanalytisch interpretiert, ist, das die Menge des Verdrängten zunimmt und das wird sich irgendwo Bahn brechen. Aber es ist schwierig zu sagen wo. leben wir? 00:52:05

Leben wir in einem neuen Biedermeier? von Daphne Ruby. Redaktion Martin Haidinger.

Wer mit diesen Gedanken etwas anfangen kann und sie honorieren möchte, findet unter diesem Link ein paar Möglichkeiten zur Unterstützung zur Auswahl. Vielen Dank!

(Titelbild: Sendungsbild der Sendung Science Arena vom 9.12.2024 – siehe Youtube-Link)