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Fakten

(Den folgenden Abschnitt über Fakten aus Michael Meyens Büchlein “Cancel Culture” fand ich so plastisch dargestellt, dass ich ihn für geeignet halte, andere darüber zum Nachdenken anzuregen. Daher biete ich ihn hier in teilbarer Form an. Das gesamte Büchlein ist sehr lesenswert und klärt in gut 70 Seiten wesentliche Begrifflichkeiten und ordnet sie in einen aktuellen Kontext ein.)

In meinen Vorträgen beiße ich damit oft auf Granit. Die “Fakten”, Herr Meyen. Wenigstens darauf müssen wir uns doch einigen können. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder seine eigenen Fakten hat? Ich verweise dann auf die Sprache, die nicht vergessen hat, dass es keine “Fakten” ohne Menschen gibt. Im Wort “factum” stecken “machen”, “tun”, “handeln”. Lateinisch: facere. Manufaktur. Handarbeit. Jede Studie ist von irgendjemandem geplant, bezahlt, umgesetzt, ausgewertet worden. Dass die Wissenschaft uns trotzdem oft genug “Objektivität” verspricht, ist eine Nebelkerze, die genau das verdecken soll. Wenn dieses Argument nicht zieht, gehe ich in die Erkenntnistheorie. Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt – mit “Phänomenen”, die “ungeachtet unseres Wollens” da sind, etwa das Wetter. Ein “Phänomen”, über das ich eine Aussage machen kann. Das Problem liegt auf der Hand. Ist es heute heiß oder nur warm? War es im letzten Jahr um diese Zeit wirklich besser? Jeder steht auf einem anderen Erfahrungsberg. Und wir brauchen eine Story, eine Geschichte, wenn wir wollen, dass uns jemand zuhört. Warum hat die deutsche Nationalmannschaft das Fußballfinale 2014 gewonnen? Durch das Tor von Götze? Die Parade von Neuer? War es der Elfmeter, den Argentinien nicht bekommen hat? Der blutende Schweinsteiger? Die Verletzung von Khedira, die die Aufstellung veränderte, oder die von Reus, bevor es überhaupt losging? Der Fels Boateng? Oder doch die Spiel- und Führungskunst von Lahm?

Ich nutze den Fußball, weil es hier wie bei jedem Spiel um (fast) nichts geht. Die Wahrheit liegt tatsächlich auf dem Platz. 1:0. Punkt, aus. Neben dem Platz ist das anders. Pipelines kaputt, LNG vor Rügen, Krieg in der Ukraine, in Gaza und im Jemen, CO2-Steuer, AfD-Verbot, Gendern, Bahnstreik, Trump: Ich könnte die Liste fortsetzen. In Politik, Wirtschaft, Kultur gibt es keinen Schlusspfiff, keinen Schiedsrichter und schon gar keinen Videobeweis. Es gibt Pro und Kontra und das auch noch in der Mehrzahl. Diese Unsicherheit können wir offenbar nicht ertragen. Deshalb das Wahrheitsregime, sagt Michael Foucault.


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