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KRITISCHE FRAGEN AN DIE STAATSRECHTSLEHRE IN DEUTSCHLAND

Der Bielefelder Juraprofessor Martin Schwab hat meinen Text über das Grundrechtsverständnis künftiger Juristen aufgegriffen und auf seinem Telegram-Kanal um einige weitere Aspekte ergänzt. Ich veröffentliche den Text nachfolgend, um ihm zu konservieren und leichter teilbar zu machen.

KRITISCHE FRAGEN AN DIE STAATSRECHTSLEHRE IN DEUTSCHLAND

Liebe Community,

In diesem Blog-Beitrag vom 18.3.2025
https://indikativ.jetzt/grundrechtsverstandnis-kunftiger-juristen/
setzt sich Jürgen Müller kritisch mit dem medialen Auftritt von Prof. Dr. Stefan Huster auseinander, Stefan Huster ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht (ISGR) an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Ich hatte Stefan Huster in meiner Zeit in Heidelberg noch als liberalen Verfassungsrechtler kennen und schätzen gelernt. Seinen Äußerungen zur Corona-Krise kann ich indes nichts Positives abgewinnen. Schlimm fand ich namentlich sein Plädoyer für eine allgemeine COVID-Impfpflicht in seinem taz-Beitrag vom 6.2.2022: “Impfung oder Lockdown”.

Jürgen Müller zeigt auf, dass Stefan Huster seine Kritiker nicht nur blockiert, sondern auch verhöhnt. Jürgen Müller wird von ihm als “unentdecktes verfassungsrechtliches Genie” verspottet – als wollte Stefan Huster sagen: Mit Leuten, die nicht über eine akademische Lehrbefugnis für Staats- und Verfassungsrecht verfügen, unterhalte ich mich gar nicht erst.

Dann schauen wir doch einmal, was habilitierte Staatsrechtslehrer in der Corona-Zeit so von sich gegeben haben! Stefan Huster hatte in besagtem taz-Beitrag selbst gefordert. Ungeimpfte sollten bei Engpässen im Gesundheitswesen notfalls ohne medizinische Versorgung bleiben. Andere forderten, dass Impfverweigerer das Haus nicht mehr verlassen dürften (Prof. Dr. Ulrich Battis, RND vom 22.11.2021) und notfalls von der Polizei zur Zwangsimpfung vorgeführt werden müssten (Prof. Dr. Christian Graf Pestalozza, RND vom 16.11.2021). Ihren Krankenversicherungsschutz sollten sie ebenfalls verlieren (Prof. Dr. Franz Mayer, RND vom 22.11.2021).

Das ist alles unfassbarer Stuss. Auch mit – und trotz – akademischer Lehrbefugnis im Staats- und Verfassungsrecht.

In der Corona-Zeit hat die deutsche Staatsrechtslehre in weiten Teilen keine gute Figur abgegeben. Ihre bedeutendsten Fehler:

  1. Kritiker, vor allem Kritiker der Impfpflicht, wurden, auch von deutschen Staatsrechtslehrern, mit ihren Sorgen und Bedenken nicht einmal angehört, geschweige denn ernst genommen. Das rechtliche Gehör repräsentiert in einem Rechtsstaat aber eine Fundamentalgewährleistung. Von habilitierten Juristen darf man erwarten, dass sie sich alle Seiten anhören und nicht auf mediale Feindbild-Rhetorik gegen Andersdenkende hereinfallen.
  2. Das menschenverachtende Narrativ, dass es keine gesunden, sondern nur noch potentiell symptomlos kranke Menschen gab, wurde kritiklos übernommen. Dabei wurde nicht erkannt, dass es gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt, wenn der Mensch auf den Status einer Virenschleuder reduziert und damit zum Objekt geradezu beliebiger staatlicher Übergriffe degradiert wird.
  3. Im Verwaltungsrecht – und um solches handelt es sich auch beim Infektionsschutzrecht – kennen wir den Unterschied zwischen Gefahr und Risiko. Eine Gefahr liegt vor, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass es demnächst zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit, insbesondere Schädigung von individuellen Rechtsgütern kommen wird. Die Abwehr solcher Gefahren ist kategorisch geboten. Ein Risiko liegt vor, wenn man solche Anhaltspunkte nicht nachweisen kann, aber nach Lage der Dinge befürchten muss, eine Gefahr nicht zu erkennen. Risikovorsorge bedarf stets einer Abwägung mit den individuellen Freiheitsrechten. Wenn man also daran glauben wollte, dass symptomlose Menschen vielleicht ansteckend sein könnten, musste man gleichwohl sorgsam reflektieren, welche Schäden es auslöst, wenn man gesunde Menschen einsperrt, ihre Geschäfte schließt, ihnen Masken aufsetzt und sie zum Testen und Impfen zwingt. Diese Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko wurde in der Corona-Zeit weitgehend eingeebnet.
  4. Zum gesicherten Bestand verwaltungsrechtlicher Dogmatik gehört die Einsicht, dass die Zuweisung einer Aufgabe für sich gesehen noch keine Eingriffsbefugnis vermittelt. Nun hat aber die Rechtsprechung in der Corona-Zeit – ohne jeden Widerstand in weiten Teilen der Staatsrechtslehre – den folgenden Gedankengang vertreten: § 4 IfSG erhebe das RKI in den Stand der nationalen Infektionsschutzbehörde. Auf Verlautbarungen des RKI dürfe sich die Regierung daher verlassen. Dies mündet (a) in einen völlig unkontrollierten Beurteilungsspielraum der Exekutive und (b) in daraus abgeleitete unkontrollierte Eingriffsbefugnisse der Exekutive. Die „Das-RKI-hat-immer-recht“-Doktrin war der Kardinalfehler in der Corona-Rechtsprechung – widerspruchslos hingenommen durch weite Teile der Staatsrechtslehre.
  5. Weite Teil der deutschen Staatsrechtslehre hielten es für völlig unbedenklich, einen Menschen zur Einwilligung in eine Impfung mit der Androhung zu drängen, er sei andernfalls raus aus dem gesellschaftlichen Leben oder gar raus aus dem Job. Eine Impfeinwilligung unter einem solchen Druck ist indes medizinrechtlich unwirksam.
  6. Weite Teile der deutschen Staatsrechtslehre hielten es in Kenntnis möglicher Impfkomplikationen für völlig unbedenklich, Menschen gegen ihren Willen zu impfen mit der Begründung, der Nutzen überwiege das Risiko. Sie waren damit bereit, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu opfern, um das Leben und die Gesundheit von Menschen zu retten. Genau diesen Versuch, Leben gegen Leben abzuwägen, hat das BVerfG indes 2006 im bekannten Luftsicherheitsurteil für unzulässig erklärt.
  7. Weite Teile der deutschen Staatsrechtslehre störte es nicht, dass die COVID-Injektionen bis Herbst 2022 lediglich bedingt zugelassen waren, mithin nach wie vor klinische Studien zu den Injektionen durchgeführt wurden, und die Menschen gleichwohl zur Duldung einer COVID-Injektion (Bundeswehr) oder zum Nachweis einer COVID-Injektion (Gesundheitswesen) verpflichtet oder durch 2G-Regeln zur Spritze gedrängt wurden.

Die Erosion der Grundrechte in der Corona-Zeit ist auch die Folge des Versagens der Staatsrechtslehre in Deutschland. Wären die Gelehrten des Verfassungsrechts geschlossen gegen die damaligen staatlichen Übergriffe aufgestanden, hätte dies den Regierenden erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ihre repressive Politik aufrechtzuerhalten.

Zum Glück hat es unter den Staatsrechtslehrern in Deutschland auch rühmliche Ausnahmen gegeben, die diesen allgemeinen Trend nicht mitgetragen haben. Aber leider waren es Ausnahmen.

Herzliche Grüße
Ihr und Euer
Martin Schwab