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Prof. Dr. Rainer Mausfeld: Demokratie am Abgrund?

Am 13. März 2024 hielt Prof. Dr. Rainer Mausfeld einen fulminanten Vortrag bei der ÖDP in München. Ich habe schon viele Vorträge von Prof. Mausfeld gehört, transkribiert, geschnitten. In meiner Wahrnehmung wurde er noch nie so deutlich wie an diesem Abend. Daher habe ich mir die Mühe gemacht, den Vortrag zu transkribieren und so auf anderem Wege zugänglich zu machen und zu konservieren. In dem Vortrag sind sehr wesentliche Aspekte enthalten, wie wir auf die Welt blicken, blicken könnten und was für Handlungsmöglichkeiten sich uns bieten. 

Zur besseren Lesbarkeit habe ich an einigen Stellen kleine Nachbesserungen und Hervorhebungen vorgenommen, ohne jedoch den Inhalt zu ändern. Es gilt das gesprochene Wort. Zunächst hier die Aufnahme des Vortrags, der neben weiteren Vorträgen auch auf der Seite der ÖDP-München abrufbar ist. Im Folgenden dann das Transkript. Die Folien können hier abgerufen werden. Ich werde darauf verzichten, einzelne Abschnitte als Videos herauszuschneiden, weil ich es für ganz wesentlich erachte, dass der Vortrag im Ganzen gesehen und hoffentlich verstanden wird. Einzelne Teile zu nutzen und sich auf Teilaspekte zu beschränken, würde wieder bedeuten, nur an der Oberfläche herumzukratzen, ohne das Gesamtbild zu erkennen. Zur weiteren Vertiefung sei dringend sein aktuelles Buch “Hybris und Nemesis” empfohlen.

Transkript des Vortrags:

Ja, ich begrüße Sie auch ganz herzlich. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, den freundlichen Empfang und bedanke mich auch bei der ÖDP für die Einladung hier nach München. Worum geht es heute Abend? Demokratie am Abgrund. Es geht offensichtlich um Demokratie und Abgrund. 

Demokratie ist etwas, was uns vertraut ist, auch wenn eigenartigerweise die meisten nicht wissen, was eigentlich damit gemeint ist und aus welchen Gründen eigentlich die Demokratie seinerzeit erfunden wurde. Abgrund in unserem Zusammenhang ist etwas einfacher. Abgrund bedeutet hier zivilisatorischer Abgrund, also Abbau von zivilisatorischen Errungenschaften, ein Rückschritt, ein Rückschritt in die Barbarei und in eine Herrschaft des Stärkeren. Das könnte in modernen Formen. Durchaus unsere Gegenwart charakterisieren. Denn die Welt ist wieder einmal aus den Fugen. Das Bedrückende, Beunruhigende ist, dass ein Großteil der Bevölkerung gar nicht mitbekommt, dass die Welt aus den Fugen ist und dadurch auch nicht sonderlich beunruhigt ist. (6:14) Und wenn alle mitbekämen, was los ist, könnten sie durch Wahlen nichts daran ändern. Das klingt vielleicht schockierend, aber nicht mehr als die alte, eine frühe Einsicht emanzipatorischer Bewegungen, die sich in dem Satz kristallisiert: „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie längst verboten.“ Egal ob Sie diesen Satz jetzt der feministischen Anarchistin Emma Goldman zuschreiben oder Tucholsky, die das wohl erstmals in dieser Formulierung gesagt haben. Wenn das so ist, haben wir eigentlich allen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Dagegen steht freilich, dass wir dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit verwandeln müssen in eine emanzipatorische Veränderungsenergie. Und wir müssen es nicht nur verwandeln, wir können es auch darin verwandeln. Das ist sozusagen die Kurzzusammenfassung dessen, worum es heute Abend geht. Nun hätten Sie es wahrscheinlich gerne etwas detaillierter. Fangen wir also an mit dem Wort Demokratie und mit der Demokratie. Hans Kelsen war einer der bedeutendsten Verfassungsrechtler des vergangenen Jahrhunderts und er nannte Demokratie als das missbrauchteste Wort der politischen Ideengeschichte. Das war 1920, als das Wort seine Hauptmissbrauchsgeschichte noch vor sich hatte, die heute in einem geradezu orwellschen Amoklauf einer Begriffsverdrehung mündet. Übrigens geht es im politischen Bereich immer zentral um Sprache, denn Sprache ist das mächtigste Manipulationsinstrument. Wir müssen uns also angewöhnen, im Bereich des Politischen jedes Wort, auch wenn es völlig unschuldig erscheint, auf eine kritische Goldwaage zu legen. (9:01)

Zurück zur Demokratie. Schon ein flüchtiger Blick auf die Ideengeschichte der Demokratie bringt etwas höchst Erstaunliches zutage. Nämlich die Demokratie war über 2000 Jahre lang nach ihrer Entstehung, nach ihrer Entstehung über 2000 Jahre lang galt sie unter allen Gebildeten als etwas ganz Schlimmes. Vor etwa 250 Jahren wurde sie innerhalb weniger Jahrzehnte zu etwas Gutem. So gut, dass heute kaum ein Herrschaftssystem auf diese Bezeichnung verzichten mag.

Das lässt sich nur erklären, wenn dieser Begriff „Demokratie“ eine gewaltige Bedeutungsveränderung erfahren hat. Ich will Ihnen zwei Beispiele dazu geben. Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: „Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Das Volk sind alle Bürgerinnen und Bürger. In einer Demokratie entscheidet das Volk.“ Das ist ja die übliche Standardvariante. „Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie.“ Ich danke Ihnen. (Lachen) Das ist natürlich eine. Ist ja auch erlaubt. Haben wir auch im Grundgesetz. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das ist eine Floskel, die für die relevanten Kreise natürlich erstmal nichts bedeutet. Das ist Rhetorik. Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy sagt Folgendes zur Demokratie: „Die Demokratie, die heilige Kuh der modernen Welt, ist in der Krise. Und diese Krise geht sehr tief. Jede Art von Gewalt findet im Namen der Demokratie statt. Der Begriff ist ausgehöhlt, eine schöne Hülle ohne Inhalt und Bedeutung.“ Das kommt wohl etwas näher an die Realität.

Unsere erste Beobachtung zur Demokratie ist ein kollektiver Gedächtnisverlust. Kollektiver Gedächtnisverlust bedeutet immer ein medial erzeugter, ein medial erzeugter kollektiver Gedächtnisverlust.

Wir haben vergessen, dass Demokratie die radikalste Form einer Zivilisierung von Macht war. (12:50) und dass sie aus diesen Gründen… Denn man fragt sich ja, wie kam man eigentlich nach 10-, 20-, 50.000 Jahren Zivilisationsgeschichte in Griechenland auf die Idee, so etwas hochgradig Abstraktes zu erfinden? Was waren eigentlich die Gründe? Das müssen wir uns ansehen. Denn dahinter stecken auch schon viele Erfahrungen aus der vorhergehenden Zivilisationsgeschichte.  

In der Zivilisationsgeschichte praktisch aller frühen Zivilisationen und Kulturen findet sich eine Einsicht, dass Macht immer etwas Toxisches hat. Denn Macht hat die Eigenschaft, dass sie immer nach mehr Macht strebt und Geld und Besitz nach mehr Besitz. Und man erkannte sehr früh, dass diese Dynamik, die der Macht innewohnt, immer den Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstört und damit auf Dauer eine Gesellschaft zerstört. Also ging es in allen Kulturen, auch in allen frühen Kulturen, immer darum, wie kann man Macht zivilisieren, wie kann man sie einhegen, um die Zerstörung einer Gesellschaft zu verhindern? (13:35) Die Griechen haben darauf aufgebaut, aber die ersten Einsichten dazu fanden sich vor allen Dingen in altorientalischen Kulturen, auf denen die Griechen dann aufgebaut haben. 

Eine Gesellschaft hat also immer die Verantwortung, Schutzbalken gegen die zerstörerische Dynamik von Macht zu entwickeln. Sie muss verhindern, dass ein Recht des Stärkeren eine gerechte wohlgeordnete Gesellschaft blockiert oder zerstört. Ein parasitäres mehr-haben-wollen – die Griechen nannten das Pleonexie – auf Kosten der Gemeinschaft, bedroht den Zusammenhalt und führt zur Zerstörung. Zivilisierung von Macht bedeutet also immer: Gegen die Entstehung parasitärer Eliten müssen Schutzmarken entwickelt werden. Die Gründe für die Erfindung der Demokratie waren ganz eindeutig in Griechenland ein Schutz vor parasitären Eliten. (14:50)

Demokratie war nicht einfach ein bisschen Selbstzweck, „lasst uns doch alle frei sein und selbstbestimmt und so etwas“. Das war ein ganz konkretes Schutzinstrument gegen die Entstehung parasitärer Eliten. Dazu entwickelten sie die Leitidee der egalitären – alle sind politisch gleichberechtigt, alle Bürger – Die Leitidee der egalitären Demokratie. Und die bedeutet im Wesentlichen, dass alle politischen und ökonomischen Eliten einer vollständigen Kontrolle und Rechenschaftspflicht durch die gesellschaftliche Basis unterworfen werden. Das ist der Kern der ursprünglichen Demokratiekonzeption. 

Daraus folgen zwei Dinge: Alle Machtstrukturen haben ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich den Machtunterworfenen gegenüber zu rechtfertigen, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen. Zweitens Jeder Bürger soll einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen haben, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen. (16:45) Diese Idee, die so ursprünglich aus dem antiken Griechenland stammende Idee, wurde für moderne Gesellschaften in der Aufklärung weiterentwickelt. Sie wurde von einer Reihe von Mängeln behoben. Sie wurde mit der Idee des Rechtsstaates, Demokratie und Rechtsstaat wurde sie verbunden und daraus entstand eine ausgefeilte Entwicklung des Demokratiekonzeptes. In der Gegenwart wurde das vor allen Dingen durch die große Verfassungstheoretikerin Ingeborg Maus in großer gedanklicher Tiefe und begrifflicher Schärfe ausgearbeitet. Wir verfügen heute über eine präzise ausgearbeitete Konzeption von Demokratie. Die einzige Schwierigkeit ist: Keiner kennt sie, weil die Idee von Demokratie, die Ursprungsidee von Demokratie, aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden ist. (18:00)

Diese Idee, die so ursprünglich aus dem antiken Griechenland stammende Idee, wurde für moderne Gesellschaften in der Aufklärung weiterentwickelt. Sie wurde von einer Reihe von Mängeln behoben. Sie wurde mit der Idee des Rechtsstaates, Demokratie und Rechtsstaat wurde sie verbunden und daraus entstand eine ausgefeilte Entwicklung des Demokratiekonzeptes. In der Gegenwart wurde das vor allen Dingen durch die große Verfassungstheoretikerin Ingeborg Maus in großer gedanklicher Tiefe und begrifflicher Schärfe ausgearbeitet. Wir verfügen heute über eine präzise ausgearbeitete Konzeption von Demokratie. Die einzige Schwierigkeit ist: Keiner kennt sie, weil die Idee von Demokratie, die Ursprungsidee von Demokratie, aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden ist. (18:00)

Stattdessen haben wir die letzten 50-70 Jahre einen langen, schleichenden Prozess einer Entzivilisierung von Macht. Entzivilisierung heißt: Die zivilisatorischen, die mühsam in der Geschichte errungenen zivilisatorischen Errungenschaften wurden wieder rückgängig gemacht. Sie wurden wieder abgebaut. Wir haben einen langen, schleichenden Prozess der Entzivilisierung von Macht mit all seinen bekannten, zerstörerischen Folgen. 

Ich gebe Ihnen nur ein paar Beispiele aus einer langen Liste für diesen Rückbau. Der betrifft, sie können zwei Dinge unterscheiden: einmal den innerstaatlichen Rückbau im Verhältnis von Staat und Bürgern und zweitens den Rückbau im Verhältnis zwischen den Staaten. Das ist das, was das Völkerrecht betrifft. Hier nur ein paar Beispiele: Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen, Abbau des Sozialstaates, extreme soziale Ungleichheit, Umwandlung des Staates in einen autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat. Das ist eine ganz gefährliche Entwicklung, die eine gegenwärtig in den letzten Jahren eine große Dynamik wieder angenommen hat. Polizeigesetze, Verbannung von Fehldenken aus der Öffentlichkeit, die Erosion der internationalen Rechtsstaatlichkeit mit der regelbasierten Weltordnung und Recht auf Selbstverteidigung. Die Medien haben ihre normative Funktion in einer Demokratie, nämlich die Bürger in unverzerrter und neutraler Weise überhaupt erst mal zu unterrichten, damit sie sich ein Urteil bilden können, über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese normative Funktion haben sie praktisch vollständig aufgegeben und sind zu Instrumenten der Informationskriegsführung im Dienste herrschender Machtverhältnisse geworden. (19:30) Damit ist schon aus diesen Gründen der Demokratie vollständig die Grundlage entzogen. Die kann es unter diesen Bedingungen nicht geben. 

Zwei Beispiele nur hierzu der neue Oxfambericht; haben Sie vielleicht mitgekriegt. Ganz kurz nur: Das reichste Prozent kassiert fast doppelt so viel wie der Rest der Welt zusammen. Die Reichen werden immer reicher. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung, 2/3 des weltweiten Vermögenszuwachses kassiert. In der Coronakrise stieg das Vermögen der zehn Reichsten der Welt stärker als in den vergangenen 14 Jahren zuvor, nämlich von 700 Milliarden Dollar auf 1,5 Billionen Dollar. Also durchschnittlich um 1,5 Milliarden Dollar pro Tag. (20:57) Ich nehme an, das schaffen die meisten von ihnen nicht mal mehr in einem Jahr.

Hier ist ein anderer Bericht von der RAND-Corporation, einem Think Tank der amerikanischen Regierung. Die haben den kumulativen Effekt parasitärer Wertabschöpfung von 1975 bis 2018 untersucht. Was bedeutet das? Die haben gefragt: Wie viel größer ist das Abschöpfen des gemeinsam Erarbeiteten – die Bevölkerung schafft etwas – des gemeinsam erarbeiteten Ertrages durch eine kleine Elite. Und da zeigt sich, diese kleine Elite hat immer mehr von diesem gemeinschaftlichen Ertrag abgeschöpft. Wie macht sie das? Sie macht das vor allen Dingen so schleichend, dass sie es gar nicht mitkriegen durch kleine Änderungen der Gesetzgebung, Steuergesetze, Abschreibungen usw. Also haben sie untersucht. Wir untersuchen mal, wie das gewesen wäre, wenn es 2018 diese Abschöpfung, wenn es diese Gesetze, die kann man ja alle wieder rausrechnen, wenn es diese Gesetze nicht gegeben hätte, wie die Abschöpfung gewesen wäre und welcher Ertrag dann zur Verfügung gestanden hätte. Und haben herausgefunden, dass die unteren 90 % der Amerikaner 47 Milliarden Dollar mehr verdient hätten, die jetzt an die oberen 10 % geflossen sind. Nur damit man mal eine Zahl hat, was wachsende Ungleichheit heißt.

Also das ist ein Raubzug astronomischen Ausmaßes, einer Umverteilung von unten nach oben. Und jetzt kommt das Interessante alles nach Recht und Gesetz. Das führt auf die Frage Wer macht eigentlich die Gesetze, dass so etwas passieren kann. Und das passiert alles in Form einer sogenannten Sperrklinke. Sperrklinke ist ein Mechanismus, der geht immer nur in eine Richtung. Sie müssen ganz viel neue Gesetze einbringen. Wenn dann zehn durchkommen, dann hat sie sich wieder ein bisschen in die Richtung bewegt. Rückwärts geht nicht, weil die Vetomacht so groß ist, dass sie jedes Gesetz mit der Vetomacht von Lobbygruppen stoppen können. Diese Sperrklinke kann sich immer nur Umverteilung von unten nach oben bewegen. Und wenn die so langsam läuft, dann kriegen sie das gar nicht mit. (23:15) Dann sagen Sie hups, ist ja jetzt alles irgendwie viel ungleicher geworden. 

Jetzt kommt der zweite Punkt. Warum kriegen kriegen die meisten das nicht mit? Warum sind wir kognitiv so blind für die Entzivilisierung von Macht? Wir kriegen diese Prozesse der Entzivilisierung kaum mit. Das ist natürlich, wer die Manipulationsmacht hat, kann das ganz leicht erreichen. Das ist soft power. Unser Gehirn ist so komplex, dass es beliebig viele Einfallstore für ein Hacking wie beim Rechner gibt, wo sie sozusagen in unsere Prozesse der Urteilsbildung von außen eingreifen können, um sie zu manipulieren. Hier haben Sie auf Wikipedia – mit Vorsicht zu genießen – aber eine Auflistung von Schwachstellen, das sind ja vielleicht 100 oder 200, sind aber beliebig viele. Das ist gerade die Komplexität unseres Geistes. Ich will Ihnen nur zwei nennen.

Wir stehen im Banne des Augenblicks. Wie alle, So sind wir gebaut. Ist auch gut so, wir stehen im Banne des Augenblicks. Bei Ursachenzuschreibungen neigen wir dazu, die Ursprungsursache zu vergessen und nur die momentane Situation in unsere Meinungsbildung einzubeziehen. (25:15) Das ist im Alltag nicht schlecht, denn das ist ja eigentlich ein Schutz. Das ist ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion. Sonst kriegten wir einen Overload, wenn wir alles mit einbeziehen müssten. Im Alltag ist das prima. Wenn aber jemand das für manipulative Zwecke nutzt, dann kann er uns in beliebige Richtung in unserer Urteilsbildung lenken. Das spielt, wenn Sie mehr darauf achten, das spielt natürlich auch heute wieder eine große Rolle, beispielsweise die Deutungsmacht über Vorgeschichte von Ereignissen. Heute gilt ja schon der Hinweis auf eine Vorgeschichte von Ereignissen, sei es Ukraine oder Gaza, gilt schon als Desinformation oder als Feindpropaganda. (26:06) 

Ein anderes Beispiel für diese Blindheit über die Vorgeschichte von Ereignissen, ist der gezielte, lang zurückreichende, schleichende Prozess einer Umwandlung des Staates in Deutschland in einen autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat. (26:41) Dieser Prozess hat – und das wird Sie wahrscheinlich verwundern, weil Sie immer das Gefühl haben, das fing doch mit Corona an, oder nicht? Das fing schon 1950 an, hat eine lange Geschichte, Adenauer-Erlass, auf dem dann der Radikalenerlass von 1972 basierte. Ein ganz, ganz dramatischer Einschnitt zur Erstellung eines Autoritären – wo die Exekutive sich selbst ermächtigt hat. Die Exekutive kann, das ist der Witz der Notstandsgesetze, sie muss nur eine drohende Gefahr ausrufen, dann kann sie machen, was sie will, und ist von allen demokratischen Fesseln befreit. (27:35) Es hat damals einen Riesen-Widerstand gegeben. Notstandsgesetze wurden übrigens schon seit 1950 jede Menge auf unterer Gesetzesebene eingeführt. Diese Notstandsgesetze von 1968 waren eine komplette Änderung des Grundgesetzes. Terrorismusbekämpfung, Coronakrise, Kampf gegen Desinformation usw usw. Immer wenn eine große Gefahr (ausgerufen wird) – der Staat kann einfach eine große Gefahr ausrufen, Desinformation ist jetzt die neue große Gefahr – dann kann man Grundrechte einschränken. (27:55)

Das sind Entscheidungen der Machteliten, nicht des Staatsvolkes. Das ist eigentlich ein gravierender Widerspruch zur Rhetorik von Demokratie.

Angela Merkel hat das ganz stolz auch zugegeben „Fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt.“ Sag mal, wo war das? Was war noch mal mit Demokratie? 

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Wie lang, wie alt das schon ist, was wir alles vergessen haben. Heinz Düx war ein renommierter Richter und und Rechtswissenschaftler, der zusammen mit Fritz Bauer wesentlich dazu beigetragen hat, dass überhaupt die Aufarbeitung der Naziverbrechen in Deutschland in Gang kam. Heinz Düx schreibt – wir reden über das Jahr 2003 – „Seit fast 25 Jahren findet in Deutschland ein systematischer Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt, gegen die die Notstandsgesetze am Ende der 60er Jahre als harmlos angesehen werden müssen?“ (29:09)

Hier noch zwei weitere Stimmen von 1967. Denken Sie mal, über welche Zeiträume wir sprechen. Der Publizist Sebastian Haffner schreibt: „Nominell leben wir in einer Demokratie. Das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuern, Fahrpreiserhöhungen. (…) Das entmachtete Volk hat seine Entmachtung nicht nur hingenommen, es hat sie geradezu liebgewonnen.“ 

Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers hatte zwei große Studien in der Zeit über die politische Situation in der Bundesrepublik geschrieben; zwei berühmte Bücher. Darin schreibt er: „Paradox könnte man sagen: Wir stehen in dem Zerfall einer Demokratie, die bei uns eigentlich noch gar nicht da war. Wir verrotten, ohne dass eine Substanz verrottete, die gewesen wäre.“ 

Die müssten sich wahrscheinlich heute beide wegen Desinformation um eine neue Stelle bemühen. Sie sehen, die Demokratie stand bereits, vor 60 Jahren am Abgrund. Und heute ist sie eine entscheidenden Schritt weiter. (31:00) Wir müssen einen kurzen Seitenblick auf ein Gebiet werfen. Die politische Ökonomie untersucht die Beziehung zwischen ökonomischen Verhältnissen und Herrschaftssystem und hat untersucht in sehr breit angelegten Studien über den ganzen Globus und über einen riesen Zeitraum, unter welchen Bedingungen entstanden eigentlich diese kapitalistischen Demokratien? Und haben herausgefunden, eine historische Regularität.

Hier gebe ich Ihnen zwei bekannte Namen Acemoglu und Robinson: „Wenn die Kosten der Repression zu hoch sind und Versprechungen von Zugeständnissen nicht glaubwürdig sind, können die Eliten gezwungen sein, eine Demokratie zu etablieren.“ (32:08) Demokratie, sagen sie, ist nichts anderes als die kostengünstigste Form einer Revolutionsprophylaxe. Diese Revolutionsprophylaxe kommt die Machteliten günstiger, wenn die Kosten der Repression zu hoch sind. Heute sind die Kosten der Repression – durch Kontrolle der Massenmedien,  soft power – so niedrig wie nie. Nach dieser Regularität, können Sie jetzt rückwärts argumentieren, ist es zwangsläufig so nach dieser Regularität, dass heute die demokratischen Zugeständnisse wieder zurückgenommen werden? Das sehen sie auch in der Entwicklung der kapitalistischen Demokratien nach dem Krieg. Es gab eine Zeit lang eine – Wolfgang Streeck nennt das eine Hochzeit von Sozialdemokratie und Kapitalismus nach dem Krieg mit dem Sozialstaat. Das passte sozusagen in die Regularitäten des Kapitalismus. Als er das nicht mehr nötig hatte, diese Symbiose für kurze Zeit einzugehen, hat er sie sofort ab den 70er Jahren zerbrochen.

Angela Merkel sagt – und das muss man sich auch in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen, weil es eigentlich ein Aufruf zum Verfassungsbruch ist: „Wir haben wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit.“ (33:40) 

In scheinbarem Gegensatz dazu hat Steinmeier kürzlich – wir sind ganz aktuell – (gesagt): „Wir müssen unsere Demokratie verteidigen.“ Nun hatten wir gesagt: In der Politik geht es immer um Sprache. Wir müssen also genau hier auf die Sprache achten. Und fragen: „Was ist denn? Was bedeutet denn unsere Demokratie?“ Und Sie ahnen schon: Der Ausdruck unsere Demokratie aus dem Mund der politischen Klasse ist durchaus wörtlich zu nehmen. Er bedeutete eben ihre Demokratie und nicht unsere. (34:52)

Der zweite Urteilsfehler, den ich kurz ansprechen möchte, ist wieder, dass wir in unseren Urteilen über gesellschaftliche Entwicklungen, über Ereignisse, den Kontext – vorhin war es der zeitliche Kontext, jetzt ist es der räumliche Kontext – den räumlichen Kontext ausblenden und nicht angemessen beachten. Wir neigen dazu, wenn wir unsere Situation hier in der Bundesrepublik betrachten, als Erklärung, auch Verhältnisse der Bundesrepublik heranzuziehen. Wir neigen dazu, die Situation in unserer Lebenswelt auch nach Ereignissen und Regularitäten unserer Lebenswelt zu bewerten und nehmen den Kontext, vernachlässigen den Kontext, was hier gravierende Folgen haben kann. Wenn wir also die Verhältnisse in der Bundesrepublik bewerten, dann suchen wir die Ursache, die Gründe für diese Entwicklung auch in der Bundesrepublik und vernachlässigen die geopolitischen Verhältnisse, die auch die Situation unserer Lebenswelt bestimmen können. Und das sind natürlich hier die USA als gegenwärtige Hegemonialmacht des Weltkapitalismus. (35:50) Und ich will nur um Missverständnisse zu vermeiden, sagen, dass das nicht eine wesenhafte Eigenschaft der USA ist, sondern der Kapitalismus ist auf Expansion und Landnahme angewiesen. Der Kapitalismus muss expandieren, sonst würde er kollabieren. Und damit er expandiert, braucht er eine harte militärische Hand, die ihm die Rahmenbedingungen schafft, um weltweit expandieren zu können.(36:33) Das war in der frühen Zeit der Imperien war das zunächst das Spanische Reich, was diese Rolle hatte. Dann war es neben Holländern, Portugiesen, Franzosen und andere. Dann war es bis in die 50er Jahre Großbritannien als Imperium und wurde dann abgelöst von den USA, die heute für den Weltkapitalismus sozusagen die strukturellen Bedingungen militärisch sichern.

Das projiziert sich in unsere Situation heute. Die sogenannte Zeitenwende, die vollständige Indienststellung deutscher Politik für US hegemoniale Interessen hat eine Reihe von Konsequenzen. Können Sie ja jeden Tag miterleben. Die US geleitete Selbstverstümmelung der deutschen Wirtschaft, das besorgniserregende Anschwellen einer eskalierenden Kriegsrhetorik, weiterer Abbau des Sozialstaates, denn was in die Rüstung geht, muss ja irgendwie dummerweise dann woanders gekürzt werden usw usw. (37:35) Auch das hat eine lange Vorgeschichte. 2011 wurde auch schon von den Deutschen die Kriegsfähigkeit gefordert. Die Deutschen müssen das Töten lernen. Das bezog sich auf Afghanistan. Also alles lange Tradition. Das Interessante ist immer wieder, wie groß eigentlich der kollektive Gedächtnisverlust ist. 

Die Zeitenwende ist eine dramatische weitere Entzivilisierung. Es hat in den letzten Jahren keinen Prozess der Entzivilisierung gegeben, der so dramatisch ist wie die Zeitenwende. Trotzdem wird sie von den meisten vielleicht als unschön und als irgendwie nicht so, aber nicht als ein dramatischer zivilisatorischer Abbau erlebt.

Auch was die USA angeht als hegemoniale Weltgewaltordnung nenne ich Ihnen ganz kurz… Das geht auch ganz lang zurück. Das sind alles ganz lang zurückgehende Entwicklungen. Da ist nichts neu. Das geht auf die Truman Doktrin zurück, vor allen Dingen auf das berüchtigte Dokument NSC 68, wo die USA schon die Führerschaft, die Weltführerschaft beansprucht haben. Damals indirekt für die sogenannte freie Welt. Seit 1991 für die gesamte Welt streben die USA eine hegemoniale Weltgewaltordnung an. Hier sind die Dokumente, können Sie alles nachlesen. Läuft alles nach dem gleichen Schema, bauen alle auf dem NSC 68 auf die Wolfowitz-Doktrin. Die USA beanspruchen alleiniges Recht, jederzeit und an jedem Ort militärische Interventionen durchführen zu können und erklärten 1992 – die Sowjetunion lag so etwas darnieder, wirtschaftlich, militärisch, in jeder Hinsicht .- erklärten sie kontrafaktisch zum Sicherheitsrisiko für ihre beanspruchte Hegemonie. Bill Clinton: alleinige Anspruch auf Full Spectrum Dominance. Überall, einfach überall, auch im sogenannten Informationsraum. Obama hat das bekräftigt: „Wir sind in der Lage, die Weltmeinung zu bestimmen.“ Usw usw usw. Auch hier sehen Sie. Wir dürfen nicht einfach nur im Hier und Jetzt denken. Wir müssen die Kontinuitäten dieser Entwicklung im Kopf haben, wenn wir ein einigermaßen angemessenes Urteil uns darüber bilden wollen. (40:40) 

Die USA sind in den fast 250 Jahren ihrer Existenz in mehr als 90 % im Krieg gewesen, nur in 21 Jahren keinen Krieg. Sie haben – das ist übrigens ein ganz neuer Report des Kongresses, sozusagen der Wissenschaftliche Dienst des Kongresses – seit 1789 haben Sie weltweit 469 Militärinterventionen durchgeführt, davon 250 (!) allein zwischen 1991 und 2022. Man kann sagen, dass die USA sich damit ein gewisses Anrecht auf den Titel erworben haben, die größte Gefahr für den Frieden in der Welt zu sein. (41:00)

Auch das hat wiederum… Ich will immer wieder zeigen: Wir müssen tiefer denken. Wir denken viel zu sehr an der Oberfläche. Auch das hat wieder tiefere Gründe, dass das der Fall ist. Da ist eine viel tiefere Ideologie noch hinter, nämlich der westliche Exzeptionalismus: Kampf der Guten gegen die wesenhaft Bösen. Was ist Exzeptionalismus? Das ist etwas ganz Wichtiges: Ist die Auffassung, dass eine Nation aus religiösen oder kulturhistorischen Gründen eine Sonderstellung einnimmt und über dem Völkerrecht steht – stünde, stünde. Einer der einflussreichsten politischen Philosophen der USA, hat gesagt: „Ich glaube nicht, dass der Westen von anderen Kulturen etwas zu lernen hat. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, den Planeten zu verwü…zu verwestlichen.“ Auch das – jeder amerikanische Präsident hat das unterschrieben: Der amerikanische Exzeptionalismus. Die USA stehen über dem Völkerrecht. Obama, sehen Sie hier, hat es auch noch mal, dass er mit jeder Faser seines Herzens das bekräftigt.

Westlicher Exzeptionalismus zieht sich durch über 500, mehr als 500 Jahre: Kreuzzüge, Kolonialismus, Kampf gegen Terror usw. Die aggressive Verfolgung materieller Interessen unter dem moralistischen Mantel eines permanenten Heiligen Krieges, um das Böse aus der Welt zu schaffen. Wir müssen uns überhaupt erst mal wieder bewusst werden, in welcher ideologischen Blase wir denken. Und nur wenn wir das wieder aufdecken, haben wir eine Chance, erfolgreiche Gegenstrategien zu entwickeln.  

Warum sind wir nicht in der Lage, robuste gesellschaftliche Schutzbalken gegen eine Entzivilisierung von Macht zu entwickeln? Jetzt ahnen Sie schon, jetzt kommt das Thema Wahlen. Warum sagen wir nicht einfach Nein und wählen die ab und wählen andere? Das führt dann zu der Frage: Wer hat eigentlich die Entscheidungsmacht bei politischen Entscheidungen? Und das ist natürlich eine empirische Frage.

Das sagt sogar die Bundeszentrale für politische Bildung, die sagt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie.“ Sagt aber an anderer Stelle: „Nicht, ob sich ein Staat als Demokratie bezeichnet, ist entscheidend, sondern entscheidend ist, wer tatsächlich die Herrschaft ausübt.“ Diese Vorlage nutzen wir gerne, um empirisch die Fakten klar zu kriegen: Wer hat eigentlich die Entscheidungsmacht im Staate? 

Die Fakten sind: Die einflussreichste Untersuchung ist zwei berühmte Politologen aus den USA, Gilens und Page, die 2014 eine ganz groß angelegte – die ist methodologisch ziemlich kompliziert, ich will darauf nicht eingehen – groß angelegte Studie gemacht haben und das später zu einem ganzen Buch, was kürzlich erschienen ist, ausgearbeitet haben. Die haben das empirisch untersucht. Und was finden Sie? Die unteren 50 % auf der Einkommensskala haben nur einen vernachlässigbaren – fast null – Einfluss auf politische Entscheidungen. Und Sie sagen, die Bezeichnung Demokratie ist damit obsolet. Wir haben eine Wahloligarchie. Bestenfalls. (45:35)

Ein Zitat: „Politische Entscheidungen werden von mächtigen Wirtschaftsorganisationen, einer kleinen Anzahl von wohlhabenden Amerikanern dominiert. Diese Studie wurde für Deutschland – sonst könnten Sie sagen in den USA ist alles ganz schlimm und bei uns ist alles ganz anders – die wurde in Deutschland auch durchgeführt. Was Bürgerinnen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, durchgesetzt zu werden. Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft also auch auf Deutschland zu. 

Die Schlussfolgerung – schreibt Dani Rodrik, ein renommierter politischer Ökonom – die Schlussfolgerung ist eindeutig: „Wenn die Interessen der Eliten von denen des Rests der Gesellschaft abweichen, sind es ihre Ansichten, die zählen – fast ausschließlich. Die Schlussfolgerung ist: Parlamentswahlen spielen offenkundig in kapitalistischen Demokratien für alle grundlegenden Entscheidungen keine Rolle mehr. Das ist gerade das große, verborgene, schmutzige Geheimnis kapitalistischer Demokratien. (47:00)

Und um das aufzubrechen, muss man wieder sehr viel tiefer graben im Ansatz. Als wir das üblicherweise tun, weil wir immer wieder – das sehen Sie an den kognitiven Verzerrungen – wir neigen immer wieder dazu, an der Oberfläche des Konkreten zu bleiben. Wir müssen sehr viel tiefer graben und die Beziehung von Kapitalmacht und Manipulationsmacht untersuchen, denn darin liegt dieses schmutzige Geheimnis. (47:50)

Die Beziehung von Kapital, Macht und Manipulationsmacht hat zwei Aspekte – kommen wir noch drauf – das sind einmal natürlich die Medien, die in privater Hand sind. Und das ist zum anderen die Möglichkeiten der Entwicklung ideologischer Macht. Auch da kommen wir gleich drauf. 

Schäuble hat das natürlich bekräftigt – positiv: „Wahlen dürfen an grundlegenden Aspekten nichts ändern.“ Auch das muss man sich wieder in Ruhe als Ausdruck harter Verfassungsfeindlichkeit auf der Zunge zergehen lassen. 

Wir haben aber doch formal freie Wahlen. Das mag in gewisser Weise stimmen, dass Wahlen weitgehend formal frei sind. Das Problem liegt aber wiederum sehr viel tiefer. Selbst wenn Wahlen formal frei sind, sind sie psychologisch nicht frei. Was bedeutet das? Das Tiefere ist natürlich: Sind die Prozesse der Meinungsbildung frei? (48:58)

Wenn sie ihre Stimme abgeben, das ist ja schon der letzte Schritt. Und wenn diese Abgabe der Stimme frei ist, heißt das ja nicht, dass die psychologischen vorhergehenden Prozesse, wie sie eigentlich Ihre Meinung gebildet haben, dass die psychologisch frei sind. Denn wenn die Prozesse der Meinungsbildung schon manipulativ kontaminiert sind, dann spielt die eigentliche Wahl überhaupt keine Rolle mehr, weil die Meinungsbildung bereits synchronisiert ist. (49:50)

Und hier haben wir wieder die Beziehung von Kapitalmacht und Manipulationsmacht. Das ist ein ganz wichtiger Vergleich, über den es sich lohnt nachzudenken. Wahlwerbung beruht natürlich auf Kapitalmacht. Wer hat das Geld? Sie wissen, in den USA sind das viele Millionen, die eine Wahlkampagne kostet. Wer hat die Kapitalmacht, Wahlwerbung zu machen? Wahlwerbung will aber eine freie Urteilsbildung in gleicher Weise unterminieren, wie eine Produktwerbung bei Konsumgütern eine freie Urteilsbildung unterminieren will. Wenn Werbung nur dazu diente, sie objektiv über ein Produkt zu informieren, dann braucht und brauchten wir sie eigentlich nicht. Konsumwerbung dient gerade dazu, Ihnen etwas zu verkaufen, was sie eigentlich nicht brauchen und möglicherweise auch gar nicht wollen. (50:37) 

Konsumwerbung macht also das, was in den Wirtschaftswissenschaften, in dieser dieser Markt-Theologie, in dieser Fiktion eines freien Marktes… Konsumwerbung zerstört einen freien Markt, weil der, der viel Geld hat, kann auch mit unglaublicher Wucht für ein schlechtes Produkt – Microsoft – für ein schlechtes Produkt es durchsetzen. 

Solange also Massenmedien in privater Hand sind oder in ökonomischen, machtpolitischen Machtstrukturen, kann es keine freie Urteilsbildung geben. Wir müssen tiefer graben. Wie schaffen wir es, die Bedingungen für eine freie Urteilsbildung zu sichern? Über Wahlen brauchen wir gar nicht zu sprechen, bevor das nicht garantiert ist. Wahlen in kapitalistischen Demokratien können also wegen der Funktionslogik des Kapitalismus als Gesellschaftsform nicht psychologisch frei sein. (51:40)

Ich zitiere ihnen hier aus eher konservativer Sicht einen renommierten Neuzeithistoriker, der sich mit der Geschichte des modernen Staates beschäftigt hat. Der drückt das ziemlich schonungslos aus. „Die Wahl selbst hat nur symbolischen Charakter. Sie stellt das zentrale Ritual des demokratischen Theaterstaates dar. Denn es geht ja nicht mehr um Sachentscheidungen, sondern nur um Bestätigung oder das Auswechseln politischer Galionsfiguren, die ihre Legitimation dadurch erhalten, dass die Bürger dieses Ritual vornehmen dürfen. Damit wird symbolisch die Fiktion der Volkssouveränität bekräftigt, auf denen der moderne Verfassungsstaat begründet ist.” Das ist also ganz ideologisch nüchtern festgestellt, welche Funktion Wahlen eigentlich haben.

Jetzt haben wir daraus ein Problem. Wir haben hier ein Spannungsverhältnis zwischen Rhetorik. Dem Volk wird immer erzählt: „Ja, ihr könnt ja anders wählen, Ihr habt euch ja die Verhältnisse selbst eingebrockt, denn ihr wählt ja ganz frei diejenigen, die es dann machen.“ Das Volk ist schuld an den Verhältnissen. Wir haben dann ein Spannungsverhältnis zwischen Rhetorik und Realität. Hier noch mal die Bundeszentrale.

„Bei Wahlen überträgt das Volk die Macht…an seine Vertreter. Die (Wahlen) sind das wirksamste Instrument demokratischer Kontrolle. Denn das Volk kann ja, wenn es unzufrieden ist, einen Machtwechsel herbeiführen.“ Das ist wieder die Rhetorik. Die Realität ist eine systematische Entzivilisierung von Macht. Seit 60 Jahren wie eine Sperrklinke. Immer nur in eine Richtung. Keine Entscheidung des Volkes. Das muss…dieses Spannungsverhältnis erzeugt Gefühle politischer Ohnmacht. Das ist das, was uns täglich bewegt, dass wir ein großes Gefühl politischer Wirkungslosigkeit haben. Wir können machen und machen und machen und irgendwie ab und zu mal kleine Erfolge…Aber an den großen Verhältnissen ändert es nichts.

Das erzeugt wiederum einen Vertrauensverlust in die politische Führung. Das finden Sie in allen Umfragen, in dramatischer Weise steigend. Ich gebe Ihnen auch hier ein paar Beispiele vom Edelman Trust Barometer von 2022: „Misstrauensvotum gegenüber der Führung. Weit über 1/3 der deutschen Befragten ist überzeugt, dass Führungskräfte bewusst lügen und in die Irre führen.“ Irgendwie kriegt das Volk doch was mit. Irgendwie kriegt es was mit. Und es verliert das Vertrauen in die Führung. Vertrauen Regierung in Deutschland, in Europa ist Vertrauen – in Deutschland war ich auch überrascht, aber es scheint so zu sein – am niedrigsten, wo nur 34 % ihr vertrauen. Deutsche Welle sagt, das Vertrauen der Deutschen auch von 2023 – das Vertrauen der Deutschen in staatliche Institutionen erreicht neuen Tiefpunkt. Es ist was da. Es ist ein großes Unbehagen in der Bevölkerung. Das ist ein großer Vertrauensverlust in der Bevölkerung. 

Denn eigentlich sind die Zeiten heute längst wieder – das haben wir von Piketty bis zu vielen anderen – wir sind wieder, was die Ungleichheit angeht und auch andere Dinge längst wieder in einer vorrevolutionären Phase. Wir sind wieder in Zuständen, die wie im Feudalismus sind. Das bedeutet eigentlich wäre es längst wieder Zeit für eine Revolution. Warum werden all diese Dynamiken der Entzivilisierung so geduldig hingenommen? (56:15) 

Das kriegen natürlich auch die Eliten mit. Davos ist ja so ein Inszenierungs- und Eliten-Inszenierungstreffen. Da treffen die sich als Eliten, um ihre Verantwortung für die Welt zu übernehmen. In diesem Jahr – sie haben gemerkt, worum es geht. Sie sagen, wir müssen das Vertrauen wiedergewinnen. Wir müssen das Vertrauen wiedergewinnen. Warum geht das verloren?

Und jetzt schauen Sie sich die Umfrage unter den Eliten, die befragen sich auch immer, die Umfragen unter den Eliten an. Ganz oben, die größte Bedrohung für die Welt ist nicht ein Atomkrieg. Da kann man noch dran verdienen. Die größte Bedrohung für die Welt ist Missinformation und Desinformation. Ich weiß nicht, woher Sie so subtile intellektuelle Unterscheidung noch machen. (57:15)

Das ist die größte Bedrohung für die Welt. Wir müssen also, schließen sie daraus, Fehldenken bekämpfen. Die Bedrohung sind nämlich nicht die Eliten. Das hat Gauck ja vor einiger Zeit auch schon gesagt: Die Bedrohung ist das Volk und nicht die Eliten. Das Staatsvolk wird als größte Bedrohung für die Demokratie angesehen. Man müsse unsere Demokratie vor dem Volk schützen, da das Volk durch Desinformation irregeleitet würde und damit das Vertrauen in die Herrschenden verlieren würde. (58:10

Und sie formulieren ganz klar den Auftrag an die Anwesenden in Davos, was man machen muss. Man muss das Staatsvolk mit dessen Billigung und Duldung so manipulieren, dass sich der Volkswille mit dem Elitenwillen deckt, das Volk also gerade die Meinungen vertritt, die die Eliten für richtig halten. “Wir müssen unsere Soft-Power-Anstrengungen und natürlich auch unsere Soft-Repression durch Einschränkung des Debattenraumes und Fehldenken zu bekämpfen, müssen wir vergrößern.” (58:45)

So, warum sind wir nicht in der Lage, gesellschaftliche Schutzbalken zu entwickeln? Wie kann man eigentlich, was muss man machen? Diese Tatsache dessen, was wir gerade… Empirische Studien, die Entscheidungsmacht liegt ganz woanders, die liegt nicht beim Volk. Wie kann man diese Tatsache verschleiern? Und das führt jetzt zu dem großen Thema ideologische Macht. Ideologische Macht ist das Zauberwort, mit dem sich das erreichen lässt. (59:45) Dieses Thema ist so kompliziert, dass man eigentlich eine mindestens viersemestrige Vorlesung dafür brauchte. Kriegen wir heute Abend nicht hin. Oder man müsste es in Comicform präsentieren. Das werde ich nun mal versuchen. 

Was ist ideologische Macht? Ideologische Macht bezieht sich auf die Macht. Die sinnstiftenden Denkkategorien, die Deutungszusammenhänge und Rahmenerzählung zu beeinflussen und zu kontrollieren, mit denen Menschen sich ein gedankliches Bild ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit machen. Ideologische Macht ist also der größte HackingAngriff auf das menschliche Bewusstsein. (1:00:40) Die Art unseres Denkens schon im Ansatz – nicht erst auf die Schlussfolgerung zu beeinflussen, was hinterher rauskommt – schon die Art unseres Denkens an der Wurzel ganz tief unten an der Wurzel zu prägen, so dass wir gar nicht mehr mitkriegen, dass schon im Ansatz unser Denken in seiner Begrifflichkeit, in der Sprache usw. vollständig kontaminiert ist im Sinne der jeweils Herrschenden. Ideologische Macht ist also Manipulationsmacht und dient der Erzeugung illusionärer Realitäten. Sie dient dazu, das gesamte Bewusstsein der Machtunterworfenen im Sinne der jeweils Herrschenden zu formen. Jetzt werden Sie sagen: Ja, das geht doch gar nicht. Erstens sind wir alle ziemlich clever und lassen uns nicht beeinflussen. Und dann sind wir ganz viele und haben ganz viel unterschiedliche Auffassungen. So etwas geht doch gar nicht. Ein Blick auf die Zivilisationsgeschichte zeigt wieder: An diesem Programm der ideologischen Macht haben die Herrschenden aller Zeiten extrem gearbeitet. Ein großer früher Höhepunkt war das pharaonische Ägypten, wo man ein so geschlossenes System ideologischer Macht hat, zu dem es keinen Außenstandpunkt… Man konnte gar nicht außerhalb dieses Systems denken. Das hat nun bestimmte Voraussetzungen, die funktionierten dann in modernen Gesellschaften nicht. Heute hat man das mithilfe von Psychologie und Sozialwissenschaften in den letzten 100 Jahren so perfektioniert, dass sie sich nicht mal mehr einen Begriff davon machen können, wie heute diese Techniken ideologischer Macht und der Bewusstseinsmanipulation, wie extrem hoch entwickelt die mittlerweile sind.

So, jetzt steigen wir ins Comic ein. Eine der ältesten Allegorien davor dafür ist die platonische Höhle. In der platonischen Höhle in Platons Höhlengleichnis finden Sie in Platons Buch „Der Staat“. Das sind Menschen in einer Höhle eingeschlossen und gefesselt. Denen wird manipulativ hier eine Wirklichkeit vorgespielt. Sie erleben hier den Schattenwurf, nicht mal mehr die Realität, sondern auch nur dieser konstruierten Realität.

Die Realität, die ist erst hier oben. Ihnen wird ein Schattenwurf vorgespielt und sie erleben es als Realität. Und da sie sich nicht bewegen können und auch sich nicht umdrehen können, um die kausale Beschaffenheit, die Art und Weise, wie die illusionäre Realität erzeugt worden ist, zu erkennen, sind sie zutiefst überzeugt, das ist die einzige Realität, die es gibt. Sie sind so tief davon überzeugt, wie wir alle von unseren Alltagsvorurteilen auch überzeugt sind. Das ist zugleich auch eine Allegorie über Vorurteile. Aus Vorurteilen kommt man nicht raus. Die haben gerade die Eigenschaft, dass sie als Vorurteil in der Regel nicht erkennbar sind. Das kennen sie aus dem Alltag, dass sie wissen, Vorurteile haben immer nur ihre Bekannten, Freunde und Feinde. Man selbst hat natürlich keine Vorurteile, aber alle anderen haben Vorurteile.

Das heißt, die hier Gefesselten haben ihre Unterdrückung liebgewonnen und sind zutiefst überzeugt, die tatsächliche Realität wahrzunehmen. Wenn jemand – und deswegen will ich Ihnen das Zitat geben, weil das heute wieder Relevanz hat – wenn jemand Sie aufklären und befreien möchte, sind Sie entschlossen, ihn zu töten. Zitat Platon: „Wer aber Hand anlegt, um sie zu befreien und hinauf zu führen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten.“ (1:04:25)

Das heißt in dieser platonischen Höhle ist die perfekteste Form der Indoktrination, die Aggressivität der ideologisch Gefesselten gegen alle, die ihre Vorstellungen als Vorurteile, Trug und Ideologie aufdecken, zeigt sich auch gegenwärtig wieder in dem hohen Ausmaß des medial erzeugten Hasses auf diejenigen, die nicht bereit sind, dem verordneten Denken zu folgen. 

Und die Aggressivität, diese Allegorie ist in gewisser Weise auch gleichzeitig eine Allegorie der Aggressivität des Vernichtungswillens gegen Whistleblower. Sie haben hier den Fall Julian Assange, sozusagen. Es muss bis zur Vernichtung gehen. (1:05:32) In der Höhle können die sich ja gar nicht miteinander, die können sich nicht bewegen, können sich nicht abstimmen. Nichts. Demokratie bedeutet ja gerade, dass wir miteinander sprechen können. Und wir können auch andere Medien – wir gehen in die Nachbarhöhle – wir können auch andere Medien ansehen.

Daraus resultierte in der Demokratie die Pispers’sche Hoffnung, nenne ich das mal. Volker Pispers hat gesagt Was meinen Sie, was hier los wäre, wenn die Leute wüssten, was hier los ist? Ja, jetzt ahnen Sie schon, dass Ihnen das Lachen im Halse stecken bleibt. Denn Sie wissen: Was wäre denn, wenn die Leute wüssten, was hier los ist? Gäbe es dann eine Revolution? Natürlich gäbe es keine Revolution. Es gibt keine Revolution, auch wenn die Leute wüssten, was hier los ist. Dann schalten sie um auf Barbie. (1:06:53)

Das heißt, und hier haben wir das gebildete Publikum, denn sie sehen, die gucken nicht nur Tagesschau, die lesen auch noch eine Zeitung. Und manche lesen sogar zwei Zeitungen und schauen auch abends noch mal in Focus. Das heißt, was wir heute haben, als Befund, ist: Wir haben eine gigantische Zerstörung mühsam errungener zivilisatorischer Substanz, alles mit Billigung und stillschweigender Duldung gerade der Teile der Bevölkerung, die am längsten das Bildungssystem durchlaufen haben. (1:07:30)

So, nun ist der Comic nicht Realität unbedingt. Wir brauchen Fakten, Fakten, Fakten. Schauen wir uns an, wie die tatsächlichen Verhältnisse sind. Umfrage vom 13. Februar (2024): Welche Partei würden Sie wählen, wenn er am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre? Was finden wir? 54 % der Wähler würden wieder genau die Parteien wählen, die für die gegenwärtigen Zustände verantwortlich sind.(1:08:20) Wir haben eine extreme Status-quo-Beharrung. Es kann kommen, was will. Es kann kommen, was will. Die ganzen letzten Jahrzehnte kam die gigantische neoliberale Revolution. Es kamen alle möglichen Dinge. Es kann sein, was will. Es gibt ein riesiges Status quo Beharrung in der Bevölkerung und wir können ja eigentlich auch ein Großteil der AfD auch damit zurechnen, weil sie ja weite Aspekte des Extremismus der Mitte, also dieser Parteien, teilt, wie Nationalismus, die aggressive Migrationsbekämpfung, die die EU gerade gegenwärtig – militärische Migrationsbekämpfung – über Frontex macht, und viele andere Aspekte, die sich hier in diesen Parteien wiederfinden. Denn die AfD wissen sie, ist Fleisch vom Fleische der CDU und der FDP. (1:09:30)

Dass das so ist, das ist atemberaubend. Dass egal was ist, die Leute immer wieder, die Parteien wählen, die es verursacht haben, ist eine atemberaubend spektakuläre Leistung von ideologischer Indoktrination. Denn Propaganda gibt es ja bei uns nicht. Das gibt es ja immer nur bei Feinden. Das heißt, der gesamte Denkraum ist so verdreht und verrauscht, dass die bestehenden Machtverhältnisse als normal erscheinen und dadurch die Zustimmung zu ihnen erhöht wird. (1:09:50) 

Hier ist wieder die platonische Höhle. Hier ist die vorgespielte Realität. Die Frage ist, wie kommen wir aus der Höhle raus? Was verstellt eigentlich den Blick auf ein Erkennen der tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten? Das sind natürlich die Medien, weil die Medien der Maschinenraum der Ideologieproduktion sind. (1:10:40)

Und Medien im weitesten Sinne, Zeitungen, Fernsehen, Internet, die gesamte Unterhaltungsindustrie, Schulen, Universitäten usw

Sie sind im Wortsinne Medien, weil sie Mittel sind, uns über etwas zu unterrichten, was nicht Teil unserer eigenen Erlebniswelt ist. (1:11:15)

Wir können ja nur ganz kleine Ausschnitte der Realität erleben. Wir sind darauf angewiesen, unterrichtet zu werden über die Realität, die wir nicht persönlich erleben. Das sind die Medien und die bilden den Maschinenraum der Ideologieproduktion. 

Damit kommen wir zur letzten Frage: Was tun? Wie lassen sich Höhlenausgänge finden? 

Und einer der wichtigsten Punkte – der wichtigsten denkmethodologischen Punkte im Politischen – deswegen habe ich das vorweggestellt von dem Schriftsteller Thomas Pynchon: „Wenn sie dich dazu bringen können, die falschen Fragen zu stellen, brauchen Sie sich über die Antworten keine Sorgen zu machen.“ (1:12:09) Ja, ja, ja. Das sollten Sie sich in der Tat ausschneiden und übers Bett hängen und jeden Tag ein bis dreimal wie über ein zenbuddhistisches Koan darüber nachdenken, was das eigentlich bedeutet und ob man jetzt schon tiefer versteht, was es bedeutet. Denn wenn die Fragen ideologisch kontaminiert sind, wenn sie schon in der Begrifflichkeit die falschen Fragen stellen und viele Protestbewegungen starten immer schon mit den falschen Fragen, dann sind natürlich auch… Wenn die Begrifflichkeit schon kontaminiert ist, sind die Antworten emanzipatorisch unbrauchbar. Aus Falschem kommt nichts Richtiges. (1:12:55) Da müssen wir immer wieder darauf achten. Stellen wir eigentlich die richtigen Fragen und nicht fragen: Wie kriegen wir eigentlich unsere Demokratie zurück? 

So, diese Mauer, ist natürlich, weil es eine Mauer der Ideologie ist, eine Mauer im Kopf. Sie ist nicht wie eine militärische Mauer. Sie ist keine Hard-Power-Mauer. Sie ist eine Mauer im Kopf, die uns den Weg verstellt, Höhlenausgänge, wieder ein Außenstandpunkt (zu finden). Was wir suchen, ist ja, wir müssen endlich wieder einen Außenstandpunkt außerhalb der Ideologie (finden) – eigentlich eine Unmöglichkeit. Das kann natürlich nur kollektiv und gemeinsam und in kleinen Schritten passieren. Wie kann man wieder kollektiv, einen Außenstandpunkt zu diesem hermetisch abgeschlossenen ideologischen Gewölbe finden. (1:13:58) Ich will Ihnen ein paar Stichworte (geben), nur nur damit man überhaupt eine Richtung hat, was geschehen muss. Wir müssen überhaupt wieder Ziele von einer gerechten, wohlgeordneten Gesellschaft formulieren. Alle frühen Zivilisationen, das ist erstaunlich, ob Mesopotamien, ob China, ob Indien, alle frühen Zivilisationen hatten kollektive Vorstellungen: Was ist eine wohlgeordnete Gesellschaft? Und die waren auch im Kern immer gleich. Dadurch, dass man das Gegenteil formulierte – die Dystopie. Eine nicht wohlgeordnete Gesellschaft ist eine Gesellschaft, wo das Recht des Stärkeren gilt oder wie man das früher in Ägypten Mesopotamien formulierte: Eine Gesellschaft ist nur gerecht, wenn der Schutz der Schwachen vor den Starken gewährleistet ist.(1:15:02) Das heißt, wir finden eigentlich, fanden in früheren Zivilisationen Vorstellung von einer gerechten, wohlgeordneten Gesellschaft. Diese Vorstellungen sind uns heute verloren gegangen. Wir müssen also überhaupt erst mal wieder Ziele formulieren. Denn sie wissen: Wer das Ziel nicht kennt, kann sich auch im Weg nicht irren. (1:15:22) 

Wir brauchen wieder eine Idee von Gemeinschaft. Der Neoliberalismus hat ja die Idee von Gemeinschaft zerstört. (1:15:40) Es gibt nicht so etwas, sagte Thatcher, wie Gemeinschaft. Es gibt nur in Konkurrenz stehende, atomisierte Einzelne. So ist die Gesellschaft heute geworden. Wir sind eine Ansammlung sozial atomisierter Einzelner. Es gibt die Idee eines kollektiven Handlungssubjekts, wie es Anfang des letzten Jahrhunderts die Arbeiterbewegung noch hatte durch Gewerkschaften, durch Parteien. Die hatten eine kollektive Identität als ein kollektives Handlungssubjekt. Die Idee ist verloren gegangen. Und wir müssen natürlich, das sind die vielen Beispiele, die wir hatten, das kollektive Gedächtnis endlich wiedergewinnen. Und ein wichtiger Punkt: Wir müssen Erfolg und Misserfolg unserer eigenen emanzipatorischen Bewegungen analysieren. Warum sind welche Bewegungen eigentlich gescheitert und wo hatten sie vielleicht kleinere Erfolge? Woran lag das? Wie waren sie beschaffen? Wodurch konnten sie zersetzt und gespalten werden? (1:16:35) Denn Fakt ist, dass die Protestbewegung, emanzipatorischen Bewegungen der letzten 30 Jahre mindestens, der letzten 30 Jahre politisch de facto weitgehend wirkungslos geblieben sind. Selbst die weltumspannende Occupy-Bewegung, die so anfangs so vielversprechend war, konnte, als sie zu gefährlich wurde, in ganz, ganz kurzer Zeit zersetzt und gespalten werden. Das müssen wir analysieren. Wir müssen strategische Betrachtungen machen, um das zu verstehen. Wie ist es eigentlich dazu gekommen? (1:17:30)

Denn das Problem ist, dass die Mächtigen, die die Ideologie produzieren, die haben – das sehen Sie an dem Eliteninszenierungstreffen in Davos – die haben ein kollektives Gefühl, die haben Ziele, die haben ganz klare, definierte, kollektive Ziele: Mehr Macht und mehr Geld

Das heißt: Wer die Kapitalmacht hat, Think-Tanks zu betreiben und NGOs und Stiftungen usw usw. Auch Deutschland ist voll mit solchen Stiftungen, werden sogar vom von der Bundesregierung finanziert. Wer die Macht hat, der kann sich… Die Machteliten können sich Geist kaufen. Die brauchen keinen eigenen Geist. Die brauchen keine eigenen Mühen um ein kollektives Gedächtnis. Die kriegen ihr eigenes kollektives Gedächtnis aus Think-Tanks präsentiert. Die kriegen ihre eigenen Strategien aus Think-Tanks präsentiert. All das haben wir nicht. Das heißt, wir haben einen gewaltigen strategischen Nachteil, bei dem, wenn wir, wenn wir emanzipatorische Kämpfe organisieren wollen. (1:18:30) 

Nun ist Ideologie eigentlich etwas Weiches, nicht wie eine Mauer etwas Hartes. Ich will hier mal die Ideologie als eine Zwiebel mit ihren verschiedenen Schichten darstellen, die den Höhleneingang versperrt. Der Höhlenausgang ist für uns versperrt durch eine dicke Zwiebel der Ideologie. Die besteht aus ganz vielen Schichten. Manche sind trivial, manche gehen tiefer. Hier ist der eigentliche Kern. Hier, an der Oberfläche außen sind natürlich auch viele ideologische Schichten. Die erste Ideologie, die wir alle gelernt haben: Wir haben ja ganz viele Medien. Wir haben in Deutschland Medienvielfalt, wissen Sie? Wir alle haben das Gefühl, nachdem wir drei Zeitungen gelesen haben und noch Tagesschau geguckt haben.

Wir sind informiert. Uns kann man nichts vormachen. Wenn einer informiert ist, dann sind, seien wir ehrlich, wir es. Das ist schon mal eine erste, ganz gefährliche Ideologie, die wir hinterfragen müssen, die sehr, sehr schwierig ist, weil die tief in uns verankert ist. Dann natürlich wieder der westliche Exzeptionalismus, den wir schon hatten. Der westliche Exzeptionalismus hat im Kern – weil er die geradezu religiöse Überzeugung beinhaltet, dass wir den Auftrag haben, dass wir die einzigen sind, die wirklich zivilisatorischen Fortschritt und zivilisatorische Werte in die Welt tragen. Und damit haben wir auch den Auftrag, unsere Werte in die Welt zu tragen. Das nannte man im Kolonialismus die zivilisatorische Mission. Dazu gehört auch die Ideologie „Wir haben eine Demokratie“. Deswegen können wir in andere Länder einfallen. Wir können – heute heißt das autoritäre Regime – die können wir beseitigen, weil wir ja alles machen, um den Werten und dem zivilisatorischen Fortschritt zu dienen. Das ist der Kern, das ist der tiefste Kern unserer Ideologie, die natürlich wieder heißt: „Wir sind die Guten“. Und auch das wird in der Literatur dazu ganz explizit formuliert, dass der Westen berechtigt ist, um das Böse zu beseitigen, darf er auch etwas Böses begehen, um das Gute zu schaffen. (1:20:15)

Was kann man machen? Jetzt kommt eine Lösung, die Sie möglicherweise als etwas billig erleben. Die aber sehr viel mehr Potenzial und Sprengstoff beinhaltet, als es auf den ersten Blick erscheint. Sie geht zurück auf Ferdinand Lassalle: „Das mächtigste Instrument, um Wege zu Höhlenausgängen freizulegen, ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel.“ (1:22:50)

Wir müssen die Asymmetrie der Situation der Machtverhältnisse beachten. Die Machteliten haben Think-Tanks. Sie können die Strategien sich entwickeln lassen, sie können das alles koordinieren. Hier haben wir ein Gegenmittel, das jeder Einzelne von uns im Alltag, in seiner Lebenswelt, in seinem Lebensbereich nach seinen Möglichkeiten tagtäglich zur Anwendung bringen kann. Rosa Luxemburg hat Lasalle geradezu empathisch zugestimmt und das bekräftigt, dass das in der Tat das revolutionärste Mittel ist, was wir haben, auszusprechen dessen, was ist. Und sie schreibt, auch das will ich Ihnen als Zitat wörtlich geben. Rosa Luxemburg schreibt, schrieb: „Das Negative, den Abbau kann man dekretieren” – was weg muss, was schädlich ist, das kann man dekretieren – “den Aufbau, das Positive nicht.” Weil man ja immer gefragt wird: Nun machen Sie doch mal einen konkreten Vorschlag, was wir machen sollen. Das lässt sich nicht dekretieren, der muss kollektiv durch Erfahrung gewonnen werden. “Neuland, Tausend Probleme. Nur Erfahrung ist imstande zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmte, schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe.” Das war genau im Athen der Antike und in der Aufklärung die Idee der Demokratie. Demokratie hieß immer, es gibt einen lernenden Souverän. Das Volk ist souverän in der Selbstgesetzgebung. Aber die Gesetze müssen nicht gut sein, sie müssen demokratisch sein. Und demokratisch zu sein heißt, das Volk kann sie aufgrund seiner eigenen Erfahrung jederzeit ändern. (1:12:10) Das gibt die Flexibilität, ein Lernen. Das ist der Witz von Demokratie, jederzeit lernfähig zu sein und jederzeit sich aus den Erfahrungen schöpferisch – dahinter steht das große kreative Potenzial des Menschen, was wir, das humanspezifisch über was wir als Menschen verfügen – dieses Potenzial zu nutzen. Und das bedeutet natürlich, man muss erst mal eine Gesellschaft der Bedingungen, eine kulturelle Atmosphäre schaffen, in der sich dieses schöpferische Potenzial zum Erproben, zum Durchprobieren nutzen lässt. Heute haben wir eine Gesellschaft, die von einer geradezu bleiernen gesellschaftlichen Atmosphäre gekennzeichnet ist, die alles kreative Potenzial dazu von Anfang an erstickt. Wir müssen also überhaupt erst wieder an der Schaffung einer solchen Atmosphäre arbeiten. (1:26:17) Und Rosa Luxemburg fügt ja in dieser schönen Verbindung von Herz und Verstand, in dieser glänzenden Formulierung, trifft ja genau formuliert, genau diese Einsicht. Und wie immer bei Weisheiten haben sie die Eigenschaft, dass das Wesen einer Weisheit ja gerade darin besteht, dass man sie überhaupt schon verstanden haben muss, bevor man sie verstehen kann. Das gilt für alle großen, tiefen Weisheiten. Und das ist auch etwas bei diesem Satz, der ist, den muss man eigentlich aufschlüsseln. Da steckt so viel drin an Einsichten, an ganz tiefen Einsichten über die Anthropologie, über die Beschaffenheit des Menschen, über Demokratie. Den muss man aufschlüsseln und erst einmal in Ruhe auseinanderfummeln, um darüber nachdenken zu können. Ich will das ein bisschen versuchen, wieder mit Einsichten aus der Zivilisationsgeschichte verbinden. Die Entwicklung von Schutzinstrumenten für eine Zivilisierung von Macht benötigt eine gesellschaftliche Atmosphäre, die für die Entfaltung positiver schöpferischer Kapazitäten des Menschen förderlich ist. Nur in einer solchen Atmosphäre ist ein kollektives Entwickeln von geeigneten Denkrahmen und ein kollektives Lernen möglich. Für diesen Weg kann es das – sagt sie hier – keine Abkürzung geben, erst recht keine autoritären und expertokratisch verordneten.(1:27:52)

Wenn ihn jemand sagt, was Sie machen müssen, um jetzt heute endlich diese Zustände zu beseitigen, dann sollten sie höchst skeptisch sein. Das lässt sich nicht verordnen, das kann niemand. Das ist eine so komplexe Situation, in der wir stehen. Wir können nur versuchen, kollektiv uns auf den Weg zu machen und uns davor hüten, dass uns jemand sagt: „Ich habe hier einen Ratschlag, Leute, ihr müsst doch nur. Ich habe gerade ein Programm geschrieben, wie man Wahlen besser organisieren kann. Da können wir wirklich direkte Demokratie per Computer machen.“ Das ist einmal Pynchon, das ist schon die Frage falsch gestellt. Und dann geht es natürlich genau autokratisch an diesem vorbei. Ideen und Lösungen für eine Zivilisierung von Macht müssen von der gesellschaftlichen Basis entwickelt werden. Das ist der Hauptpunkt, so schwer uns das fällt, weil wir natürlich gerne Ratschläge haben, auch zur gedanklichen Entlastung von den Mühen, das zu entwickeln. (1:29:13) Das heißt, dieses Instrument der Demokratie, was sich hier drin noch einmal verkörpert, das war das mächtigste Schutzinstrument gegen eine Zivilisierung von Macht. Dieses mächtigste Schutzinstrument gegen eine Entzivilisierung von Macht ist uns heute de facto genommen worden, mit allen zerstörerischen Folgen und immer dramatischer werdenden zerstörerischen Folgen, die das für unsere Gesellschaft hat. (1:29:50) Ich danke Ihnen.

(Wer meine Arbeit unterstützen mag, gerne hier lang.)