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Volkssouveränität oder Widerstandsrecht?

Der folgende Ausschnitt aus dem Buch “Hybris und Nemesis” von Prof. Rainer Mausfeld steht unter dem Eindruck der Demos am Wochenende (22.3.25). Monatelang gelang es nicht, Menschen für den Frieden zu aktivieren und deutlich zu machen, dass es in diesem Land sehr viele Menschen gibt, die für Frieden einstehen und eine andere Politik wünschen. Die Teilnehmerzahlen an den Demos VOR der Bundestagswahl und vor der Verabschiedung einer Rekordverschuldung zu Gunsten einer Kriegswirtschaft mittels einer Grundgesetzänderung durch einen bereits längst aufgelösten und sodann deutlich abgewählten Bundestag, lagen zum Teil nicht einmal im 3-stelligen Bereich. Es war ein beispielloser Vorgang, der jedoch am Samstag vor der entscheidenden Sitzungswoche in München gerade einmal 70 Menschen auf die Straße brachte und auch in Berlin erreichten die Teilnehmerzahlen keine berichtenswerte Größe. Eine Woche später, als alles zu spät war, versammelte sich hingegen deutschlandweit an zahlreichen Demos ein Vielfaches an Menschen. Die Vermutung besteht, dass der Vorgang im Bundestag und Bundesrat ein Reizauslöser war, Widerstand zu leisten. Dies mag verständlich und berechtigt erscheinen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht bereits im hierdurch zum Ausdruck kommenden Handeln ein Denken sichtbar wird, das Volkssouveränität verhindert. Dazu Rainer Mausfeld auf den Seiten 308f.:


“Diese US-Verfassung beschränkte die Volkssouveränität auf den einmaligen Akt der Verfassungsgebung von 1787. Mit diesem Akt hatte das Volk seine demokratische Schuldigkeit getan. Die Volkssouveränität ging in einer Verfassungssouveränität auf und verschwand als ständige Instanz von der politischen Bühne. Die Erwähnung der „verfassunggebenden Gewalt des Volkes“ bleibt in diesen Verfassungstypen eine leere ideologische Legitimationsformel. Zum Unterschied von Volks- und Verfassungssouveränität stellt Ingeborg Maus fest:

„Demokratische Willensbildung wird folgerichtig durch die Interpretation ‚souveräner‘ vorgegebener Verfassungsinhalte ersetzt, in der das Verfassungsgericht und die Instanzgerichte qua expertokratischer Kompetenz gegenüber alternativen gesellschaftlichen Interpretationsbemühungen stets das letzte Wort behalten. (…) Hatte die Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts noch darauf bestanden, dass dies Aufgabe der permanenten verfassunggebenden Gewalt des Volkes sein, so ist dieser wesentliche Aspekt von Volkssouveränität heute durch die Verfassungsgerichtsbarkeit usurpiert.“ 

Ein solches Verfassungsverständnis, dessen „Exorzismus jeglicher Volkssouveränität im Zeichen der Rechts- und Verfassungssouveränität ganz offenkundig ist“, ist als vorgeblich einzig realistische ‚Neukonzeption‘ von Demokratie tief im öffentlichen Bewusstsein verankert worden. Es ist so tief verankert worden, dass es, wie bereits in der Einleitung angesprochen, selbst von basisdemokratischen Initiativen unbewusst und entgegen ihren Intentionen übernommen wird, wenn sie sich statt auf Volkssouveränität auf ein Widerstandsrecht berufen. Damit berauben sie sich ihrer wichtigsten Leitidee und werfen alle Prinzipien demokratischer Legitimation des politischen Handelns über Bord. Das auf die Zeit des Absolutismus zurückgehende Widerstandsrecht hat nämlich in der auf Volkssouveränität beruhenden Demokratiekonzeption keinen Platz mehr:

„Was Volkssouveränität von Widerstandsrecht, das sie einmal historisch ablöste, unterscheidet, ist gerade die Tatsache, dass sie sich nicht aus bestehendem Recht oder einer geltenden Verfassung ableitet, sondern der gesamten Rechtsordnung vorausliegt und diese erst begründet.“

Die gegenwärtige Tendenz zu einer Berufung auf ein Widerstandsrecht bedeutet jedoch die Rückkehr zu einem feudalistischen Verfassungsverständnis.

„Die Praxis und noch mehr die Selbstinterpretation der basisdemokratischen Bewegungen stützen selber den herrschenden Trend, gegen den sie sich wenden, indem sie sich (…) zur Artikulation ihrer Verweigerungen solcher Aktionsformen bedienen, die im Ergebnis die herrschende justizstaatliche Entwicklung bestätigen. Auf diese Weise wird die Idee, dass nur demokratisch gesetztes Recht legitim sei, verabschiedet und die Initiative der Rechtsentwicklung an die Gerichte zurückgegeben. Diese erneute Annäherung an mittelalterliche Rechtsverhältnisse bricht zugleich mit allen Prinzipien demokratischer Legitimation des politischen Handelns.“

Mit der Berufung auf ein Widerstandsrecht begeben sich basisdemokratische Initiativen „freiwillig in jenen selbstreferentiellen Zusammenhang eines totalisierten Verfassungsverständnisses, das der Interpretationsherrschaft der Herrschenden zuarbeitet“. Dieses Beispiel einer Berufung basisdemokratischer Bewegungen auf ein Widerstandsrecht und die damit verbundene Vorstellung einer Souveränität der Verfassung macht noch einmal in besonderer Weise deutlich, wie tiefgreifend die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie im öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden ist.” 


Das Buch “Hybris und Nemesis” ist eine klare Kaufempfehlung. Rainer Mausfeld wies in einem Vortrag am 13. März 2024 in München mit einem Zitat auf eine wesentlichen Aspekt hin: “Wenn sie dich dazu bringen können, die falschen Fragen zu stellen, brauchen sie sich um die Antworten keine Sorgen zu machen.” Rainer Mausfeld gelingt es in seinem Buch einzigartig, Zusammenhänge darzustellen und Probleme herauszuschälen, über die sich viele vorher vielleicht wenige bis keine Gedanken gemacht haben. Er leitet die Geschichte der Demokratie aus dem Altertum her als ein ständiges Ringen um Begrenzung von Macht. Machtstrukturen sind es, die Demokratie verhindern. Die aktuelle Form der repräsentativen Demokratie, in der wir leben, ist ein Konstrukt, um Machtstrukturen zu schützen, indem sie Demokratie verhindert. Den Bürgern wird vorgegaukelt, dass sie in einer Demokratie lebten und durch eine Wahl alle vier Jahre, die nichts zu ihren Gunsten ändert, mitbestimmen könnten. Die ausgewählte Textpassage könnte geeignet sein, darüber nachzudenken, welche Stellung das Volk im System wirklich hat. Das Buch wirft derartige Fragen mannigfaltig auf und zeigt auf, wie das gesamte Denken durch eine über Jahrzehnte einstudierte Begriffsverwirrung korrumpiert ist.

Abschließend und ergänzend sei darauf hingewiesen, dass durchaus auch überweitergehende Fragen nachgedacht werden darf und sollte, so über den Begriff und die Bedeutung von Demokratie an sich oder auch noch weitergehend über den Staat, allein schon, um verinnerlichte Begrenzungen des Denkens aufzubrechen und sich der richtigen Frage zu nähern, die Rainer Mausfeld in seinem erwähnten Vortag offen ließ.

Wer meine Arbeit honorieren möchte, findet unter diesem Link ein paar Möglichkeiten zur Unterstützung zur Auswahl. Vielen Dank!